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Das Bundesgericht hat sich nach dem Bundesverwaltungsgericht mit der Frage auseinandergesetzt, wie Over-The-Top-Dienste aus Sicht des Bundesgesetzes betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF) zu qualifizieren sind. Auslöser dafür war eine Beschwerde der Anbieterin der Telefonie- und Instant-Messaging-App Threema gegen eine Verfügung des «Dienst ÜPF». Der Dienst ÜPF verlangte von Threema die Überwachung von Randdaten der Kommunikation sowie die Entfernung der von ihr angebrachten Verschlüsselungen. Unbestritten war dabei, dass Threema als sogenannter Over-The-Top-Dienst (OTT-Dienst) einzustufen ist. In seinem Urteil entschied das Gericht, wie bereits zuvor das Bundesverwaltungsgericht, sodann, dass Anbieterinnen dieser OTT-Dienste nicht den ausgedehnten Überwachungspflichten für Fernmeldedienst-Anbieterinnen, sondern den weniger weitgehenden Überwachungspflichten für Anbieterinnen abgeleiteter Kommunikationsdienste (AAKD) unterstehen. Im Ergebnis weist es die Beschwerde des Dienst ÜPF ab und bestätigt somit das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts.
Threema als Telefonie- und Instant-Messaging-Dienst
Threema ist eine App für Smartphones und ein Produkt der gleichnamigen Threema GmbH (Threema). Die App erlaubt es, Text- und Sprachnachrichten sowie Dateien auszutauschen. Ausserdem können über Threema Sprachanrufe getätigt werden. Threema bewirbt ihre App insbesondere damit, dass Sicherheit und Datenschutz für sie unbeugsame Prinzipien seien. Threema sei so konzipiert, dass keine Datenspur entstehe und immer vollständig End-zu-End verschlüsselt kommuniziert werden könne. Dadurch sei beispielsweise ein anonymes Chatten möglich, da keine Handynummer dafür erforderlich ist.
Beauftragung zur Echtzeitüberwachung von Randdaten
Im November 2018 beauftragte der Dienst Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr (Dienst ÜPF) Threema mit einer Überwachung von Randdaten. Als Randdaten werden die Daten bezeichnet, welche aufzeigen, wer wann mit wem kommuniziert hat, nicht aber, was der Inhalt einer Kommunikation war. Threema wurde damit unter anderem verpflichtet, dem Dienst ÜPF die zur Durchführung der Überwachung notwendigen Informationen zu liefern und angebrachte Verschlüsselungen zu entfernen. Begründet wurde dieser Auftrag vom Dienst ÜPF damit, dass Threema als Anbieterin von Fernmeldediensten (FDA) gemäss Art. 2 Bst. b BÜPF i.V.m. Art. 3 Bst. b des Fernmeldegesetzes vom 30. April 1997 (FMG) zu qualifizieren sei.
Dienst ÜPF erhebt Beschwerde gegen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
Gegen diese Verfügung erhob Threema Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Dieses hiess die Beschwerde gut, insbesondere da Threema gerade nicht als FDA zu qualifizieren sei, sondern als sog. Anbieterin abgeleiteter Kommunikationsdienste (AAKD) nach Art. 2 lit. c BÜPF. Entsprechend sei die Verfügung des Dienst ÜPF aufzuheben (vgl. dazu ausführlich MLL News vom 10. September 2020).
Gegen dieses Urteil erhob der Dienst ÜPF am 25. Juni 2020 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht. Er beantragte die Aufhebung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts und die Bestätigung der eigenen Verfügung. Threema beantragte, dass die Beschwerde abzuweisen sei.
Threema gilt als OTT-Dienst
Nicht streitig war, wie bereits vor Bundesverwaltungsgericht, dass Threema als «Over-The-Top-Dienst» («OTT-Dienst») einzustufen ist. Unter OTT-Diensten werden internetbasierte Dienste verstanden, die unabhängig von der Internetzugangsanbieterin erbracht werden. Vereinfacht gesagt bedeutet dies, dass ein Dienst über das Internet angeboten wird, wobei die Anbieterinnen des genutzten Internetzugangs (z.B. Salt, Sunrise oder Swisscom) von diesem Angebot unabhängig sind. Beispiele für OTT-Dienste sind neben Threema etwa WhatsApp oder Viber. Die OTT-Dienste unterscheiden sich damit insbesondere vom Versand von SMS und MMS, welche nicht über das Internet, sondern direkt über die Infrastruktur der jeweiligen Anbieterin (z.B. Salt, Sunrise oder Swisscom) übermittelt werden.
Gilt Threema als Fernmeldedienst?
Im Urteil vom 29. April 2021 (2C_544/2020) stand die Frage im Vordergrund, ob OTT-Dienste unter dem BÜPF als FDA oder AAKD einzustufen sind. Hierzu ging das Gericht zunächst auf Art. 2 lit. b BÜPF ein, der für den Begriff des Fernmeldedienstes auf Art. 3 lit. b FMG verweist. Dort werden Fernmeldedienste als Dienste definiert, die eine «fernmeldetechnische Übertragung von Informationen für Dritte» ermöglichen. Das Bundesgericht kam dabei zum Schluss, dass gemäss dem Gesetzeswortlaut «nur eine Anbieterin, welche ein Senden oder Empfangen von Informationen über Leitungen oder Funk anbietet» als Fernmeldedienstleisterin qualifiziert. Es sei demnach zu prüfen, ob Gründe bestünden vom Gesetzeswortlaut abzuweichen. Dabei folgt das Bundesgericht bei seiner Auslegung dem sog. pragmatischen Methodenpluralismus, wobei es die nachfolgend beschriebenen Auslegungsmethoden anwendet, ohne dabei die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen.
Berücksichtigung der historischen Elemente
Das Gericht befasste sich zuerst mit den sog. historischen Elementen, also u.a. der Entstehungsgeschichte des Gesetzes. Dabei betrachtete das Bundesgericht zunächst die Botschaft des Bundesrats zum BÜPF. Dieser habe die Auffassung zugrunde gelegen, dass als FDA nur diejenigen Anbieterinnen gelten, welche «[ermöglichen] mit einem Festnetz- oder Mobiltelefon zu telefonieren oder auf das Internet zuzugreifen». AAKDs zeichnen sich demgegenüber dadurch aus, dass «[sie] Dienste bereitstellen, die nur in Verbindung mit der Tätigkeit einer Fernmeldedienstanbieterin (insbesondere einer Internetzugangsanbieterin) angeboten werden können.». Ausserdem wurden Chat- bzw. Instant-Messaging-Plattformen in der Beratung im Parlament ausdrücklich als Beispiele für AAKDs genannt. Das Bundesgericht weist des Weiteren darauf hin, dass der EuGH im Urteil vom 13. Juni 2019 (C-193/18) E-Mail-Dienstleiter, welche nach Ansicht des Bundesgerichts durchaus mit den Diensten von Threema vergleichbar sind, nicht als «elektronische Kommunikationsdienste» qualifizierte (vgl. dazu MLL-News vom 7.7.2019).
Technische Entwicklung in BÜPF bereits berücksichtigt
Anschliessend prüfte das Bundesgericht, inwieweit dieses Zwischenfazit mit den gegenwärtigen tatsächlichen Gegebenheiten und herrschenden Wertvorstellungen übereinstimmt. Das Bundesgericht ging dabei auf die vom Dienst ÜPF vorgebrachte Argumentation ein, wonach aufgrund der technologischen Entwicklung der Begriff FDA weiter auszulegen sei, als er damals im Gesetzgebungsprozess verstanden wurde. Das Bundesgericht führte dazu aus, dass bei der Entwicklung des BÜPF die technologische Entwicklung bereits berücksichtigt worden sei. Es könne deshalb «keine Rede sein von Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse gegenüber denjenigen, die dem Gesetzgeber vorschwebten.»
Sinn und Zweck der Norm bleibt erhalten
Auch aus teleologischer Perspektive, d.h. der Auslegung nach dem Sinn und Zweck der in Frage stehenden Gesetzesvorschrift, gelangt das Bundesgericht zum Schluss, dass Threema nicht als FDA zu qualifizieren sei, da das BÜPF die Möglichkeit vorsehe, dass der Bundesrat gewisse AAKD zur zweckmässigen Überwachung des Fernmeldeverkehrs den weitergehenden Mitwirkungspflichten der FDA unterstellen könne. Diese Bestimmungen würden bereits sicherstellen, dass den rasanten technischen Entwicklungen auf diesem Gebiet Rechnung getragen werde. Das Bundesgericht kommt damit zum Schluss, dass unter einer teleologischen Auslegung der Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen hat, dass gewisse Überwachungslücken bestehen können.
Revision des FMG
Schliesslich geht das Bundesgericht auf die Revision des FMG ein (vgl. auch MLL-News vom 21. Dezember 2020). Der Dienst ÜPF vertrat dabei die Ansicht, dass klassische Fernmeldedienste und OTT-Dienste gleich zu behandeln sind. Dieser Meinung folgt das Bundesgericht allerdings nicht. Das Bundesgericht räumt zwar ein, dass nach der Botschaft des Bundesrates tatsächlich von einem umfassenderen Verständnis des Begriffes der Fernmeldedienstanbieterin auszugehen sei als nach dem bisherigen Recht. Denn darin werde erklärt, der Begriff der Fernmeldedienste umfasse im Rahmen der Revision des FMG auch OTT-Dienste. Allerdings sei der Verweis auf Art. 3 lit. b FMG in Art. 2 lit. b BÜPF entfernt worden und habe somit eine Entkoppelung zwischen dem FMG und dem BÜPF stattgefunden. Damit sollte ausdrücklich verhindert werden, dass Anbieterinnen abgeleiteter Kommunikationsdienste aktive Auskunfts- und Aufsichtspflichten auferlegt werden, nur weil ihre Tätigkeiten (neu) Fernmeldediensten im Sinne des FMG entsprechen Zudem sei die Revision im relevanten Zeitpunkt ohnehin noch nicht in Kraft gewesen und könne nicht zur Konkretisierung des geltenden Rechtszustandes oder zur Lückenfüllung verwendet werden.
Fazit und Anmerkungen
Vor diesem Hintergrund gelangt das Bundesgericht zum selben Schluss wie das Bundesverwaltungsgericht, und zwar, dass Threema als AAKD gemäss Art. 2 lit. c BÜPF zu qualifizieren sei und vom Dienst ÜPF zu Unrecht als FDA gemäss Art. 2 lit. b BÜPF eingestuft wurde. Entsprechend war die Beschwerde abzuweisen. Diese Qualifikation hat zur Folge, dass Threema nur reduzierten Überwachungs- und Auskunftspflichten aus dem BÜPF untersteht.
Die aus dem Urteil hervorgehende Ablehnung der pauschalen Klassifizierung von OTT-Diensten als FDA ist zu begrüssen. Denn das BÜPF sieht bereits Möglichkeiten vor, dass der Bundesrat Dienste einer Kategorie den Pflichten einer andere Kategorie unterstellen kann (z.B. ein AAKD wird den Pflichten eines FDA unterstellt), wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. Art. 22 Abs. 4, Art. 27 Abs. 3 BÜPF und Art. 52 VÜPF). Durch diese Möglichkeit soll verhindert werden, dass unzählige Anbieterinnen von OTT-Diensten den weitgehenden Pflichten (z.B. umfassendere Überwachungs- und Auskunftspflichten) unterstehen. Gleichzeitig bleibt es dort, wo es sachlich gerechtfertigt ist, aber möglich, eine weitergehende Überwachung anzuordnen. Im Übrigen bezwecken diese Bestimmungen gerade, der auf diesem Gebiet rasanten technischen Entwicklung und dem Umstand, dass die Grenzen zwischen FDA und AAKD zunehmend verwischen, Rechnung zu tragen.
Weitere Informationen:
- Bundesgerichtsurteil vom 29. April 2021 (2C_544/2020)
- Bundesverwaltungsgerichtsurteil vom 19. Mai 2020 (A-550/2019)
- Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs vom 18. März 2016 (BÜPF)
- Urteil des EuGH C-193/18 vom 13. Juni 2019
- Botschaft zum BÜPF vom 27. Februar 2013
- BJ, 2017, Weitere Unterlagen zur Totalrevision des BÜPF
- Fernmeldegesetz vom 30. April 1997 (FMG)
- Botschaft zum FMG vom 6. September 2017
- BAKOM, 2019, Weitere Unterlagen zur Teilrevision des FMG
- MLL News vom 6. September 2019: «FMG-Revision verabschiedet: Mehr Konsumentenschutz, Widerruf von Domains und Netzneutralität»
- MLL News vom 10. September 2020: «BVGer: Threema gilt als Anbieterin abgeleiteter Kommunikationsdienste im Sinne des BÜPF»
- MLL-News vom 21. Dezember 2020: «FMG-Revision gilt ab 2021: mehr Konsumentenschutz, Widerruf von Domains und Netzneutralität»