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Einleitung
Ein Schiedsverfahren nach der Schiedsordnung der Internationalen Handelskammer («International Chamber of Commerce», ICC) ist ein Streiterledigungsverfahren, das mit einer rechtsverbindlichen Entscheidung (Schiedsspruch) eines unabhängigen Schiedsgerichts endet. Der Schiedsspruch kann gestützt auf das New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche von 1958, das mittlerweile 146 Mitgliedstaaten zählt, praktisch weltweit vollstreckt werden.
Das Verfahren wird durch den Antrag einer Partei beim Internationalen Schiedsgerichtshof der ICC in Paris eingeleitet. Der 1923 gegründete Internationale Schiedsgerichtshof ist eine der renommiertesten Institutionen zur privaten Streitschlichtung in Wirtschaftsstreitigkeiten.
Die ICC-Schiedsordnung ist für die weltweite Anwendung in allen Sprachen und nach jedem (auf den strittigen Vertrag anwendbaren) Recht bestimmt. Bekanntlich ist die Schweiz das von den Parteien am häufigsten als Schiedsort gewählte Land in ICC-Verfahren. Die vorgesehenen Schiedssitze sind dabei zumeist Zürich oder Genf. Statistisch ist die Schweiz zudem jenes Land, das am meisten Schiedsrichter und Parteivertreter in ICC-Verfahren stellt.
Die neue Schiedsordnung wird am 1. Januar 2012 in Kraft treten und gilt (mit Ausnahme der nachfolgend erwähnten Bestimmungen zum Eilschiedsrichter) für alle ab diesem Zeitpunkt eingeleiteten Verfahren. Die neue Schiedsordnung kann über folgenden Link abgerufen werden: Schiedsgerichtsordnung der ICC
Was ist neu?
Die neue ICC-Schiedsordnung reagiert auf die zunehmende Komplexität internationaler Streitigkeiten. Insbesondere enthält sie einen neuen Abschnitt zu komplexen Mehrparteienverfahren und zur Bündelung von mehreren Schiedsverfahren.
Ausserdem enthält die neue Schiedsordnung, wie erwähnt, weitreichende Änderungen im Bereich der «Emergency Arbitration», einem Eilschiedsverfahren. Der neu vorgesehene Eilschiedsrichter soll es den Parteien ermöglichen, bereits vor der Konstituierung des Schiedsgerichts vorsorgliche Massnahmen zu beantragen. Auf diese Weise wird ein vorläufiger Rechtsschutz zu Beginn (und innerhalb) des Schiedsverfahrens ermöglicht.
Betont sei, dass die nachfolgende Übersicht nur die wichtigsten Neuerungen darlegt. Ein detaillierter (Artikel für Artikel-)Vergleich der Schiedsordnung von 1989 mit jener von 2012 kann der folgenden Tabelle entnommen werden: Vergleichstabelle
Aus der folgenden Konkordanztabelle sind zudem die Artikelnummern der (inhaltlich gleich gebliebenen) neuen und alten Bestimmungen der Schiedsordnung ersichtlich: Konkordanztabelle
Die wichtigsten neuen Bestimmungen im Überblick:
1. Bestimmungen bezüglich Mehrparteienverfahren
In internationalen Geschäftsbeziehungen entfachen immer öfter Streitigkeiten zwischen mehreren Parteien und/oder Streitigkeiten im Zusammenhang mit einer Vielzahl von Verträgen. Dieser (oft komplexen) Problematik versucht die neue ICC-Schiedsordnung mit den nachfolgend dargelegten Artikeln 7 bis 10 zu begegnen.
Einbezug zusätzlicher Parteien
Eine Partei, die die Einbeziehung einer zusätzlichen Partei zum Schiedsverfahren bewirken möchte, kann ihre Schiedsklage unter den in Artikel 7 festgelegten Voraussetzungen gegen die zusätzliche Partei beim Sekretariat der ICC einreichen (sog. Antrag auf Einbeziehung). Zu beachten ist, dass nach der Bestätigung oder Ernennung eines Schiedsrichters die Einbeziehung zusätzlicher Parteien nur mit dem Einvernehmen sämtlicher Parteien, einschliesslich der zusätzlichen Partei, erfolgen kann.
Ansprüche zwischen mehreren Parteien
Gemäss dem neuen Artikel 8 kann – unter gewissen Vorbehalten – in einem Schiedsverfahren mit mehreren Parteien jede Partei gegen jede andere Partei zu Beginn des Schiedsverfahrens Ansprüche geltend machen; und zwar selbst wenn diese sich auf verschiedene Verträge (und somit unterschiedliche Schiedsvereinbarungen) stützen. Nach der Unterzeichnung des Schiedsauftrages (Terms of Reference) können solche Ansprüche allerdings nur erhoben werden, wenn das Schiedsgericht dies zulässt.
Behandlung mehrerer Verträge
Vorbehaltlich der in Artikel 9 genannten Bestimmungen können Ansprüche, die sich aus oder im Zusammenhang mit mehr als einem Vertrag ergeben, in einem einzigen Schiedsverfahren geltend gemacht werden. Dies gilt unabhängig davon, ob diese Ansprüche aufgrund einer oder mehrerer auf die ICC-Schiedsordnung verweisenden Schiedsvereinbarungen geltend gemacht werden.
Verbindung von mehreren Schiedsverfahren
Auf Antrag einer Partei kann der ICC-Gerichtshof gestützt auf Artikel 10 zwei oder mehrere Schiedsverfahren in folgenden drei Fällen in einem einzigen Verfahren vereinen:
1. Sofern die Parteien die Verbindung vereinbart haben; oder
2. alle Ansprüche in den verschiedenen Schiedsverfahren aufgrund derselben Schiedsvereinbarung geltend gemacht werden; oder
3. sofern die Ansprüche in den mehreren Schiedsverfahren aufgrund mehr als einer Schiedsvereinbarung geltend gemacht werden, die Schiedsverfahren zwischen denselben Parteien anhängig sind, die Streitigkeiten in den verschiedenen Schiedsverfahren sich im Zusammenhang mit derselben Rechtsbeziehung ergeben und der ICC-Gerichtshof die einschlägigen Schiedsvereinbarungen für miteinander vereinbar hält.
Falls eine derartige Verbindung mehrerer Schiedsverfahren erfolgt, werden diese in der Regel im zuerst eingeleiteten Schiedsverfahren vereint.
2. Bestimmungen zum neu vorgesehenen Eilschiedsrichter, um umgehend vorsorgliche Massnahmen beantragen zu können
Benötigt eine Partei dringende Sicherungsmassnahmen oder vorläufige Massnahmen, die nicht bis zur Bildung eines Schiedsgerichts warten können (sog. Eilmassnahmen), kann sie neu gestützt auf Artikel 29 einen entsprechenden Antrag gemäss der in Anhang V enthaltenen Eilschiedsrichterverfahrensordnung stellen. Der Antrag muss vor Übergabe der Schiedsverfahrensakten an das Schiedsgericht beim Sekretariat der ICC gestellt werden. Der Beschluss des Eilschiedsrichters bindet das Schiedsgericht nicht in Bezug auf irgendeine im Beschluss entschiedene Frage oder Streitigkeit. Das Schiedsgericht kann Beschlüsse des Eilschiedsrichters ändern oder gar aufheben.
Zu beachten ist, dass die Bestimmungen zum Eilschiedsrichterverfahren (Art. 29 i.V.m. Anhang V) keine Anwendung finden, wenn die einschlägige Schiedsvereinbarung vor dem Datum des Inkrafttretens der Schiedsordnung (1. Januar 2012) abgeschlossen wurde. Entscheidend ist somit diesbezüglich nicht der Zeitpunkt der Einleitung des Schiedsverfahrens, sondern jener des Abschlusses der Schiedsvereinbarung. Im Übrigen steht es den Parteien frei, die Nichtanwendbarkeit der Bestimmungen zum Eilschiedsrichterverfahren zu vereinbaren.
Schliesslich sei darauf hingewiesen, dass es den Parteien – ungeachtet der Bestimmungen zum Eilschiedsrichterverfahren – frei steht, den staatlichen Richter zwecks Erlasses vorsorglicher Massnahmen anzurufen, was in Art. 29 Abs. 7 ausdrücklich erwähnt wird. Staatliche Gerichte werden mit anderen Worten ihre (parallele) Zuständigkeit auch nach dem Inkrafttreten der neuen ICC-Schiedsordnung beibehalten.
3. Ermächtigung des Schiedsgerichts zum Erlass fallspezifischer Verfügungen zur Wahrung der Vertraulichkeit des Schiedsverfahrens
Ein weit verbreiteter Mythos besagt, dass Schiedsverfahren definitionsgemäss vertraulich sind. Dem ist nicht so. Schiedsverfahren sind bloss private (d.h. nicht öffentliche) Streiterledigungsverfahren. Nur sofern und soweit die massgebliche Schiedsvereinbarung, eine sonstige Parteivereinbarung oder die einschlägige Schiedsordnung die Vertraulichkeit des Schiedsverfahrens vorsieht, unterliegen die Parteien einer Vertraulichkeitspflicht.
Die ICC-Schiedsordnung enthielt, wie die meisten Schiedsordnungen, seit jeher keine Bestimmung, welche die Vertraulichkeit des Schiedsverfahrens vorsah. Neu gilt indessen Artikel 22 (Abs. 3), wonach das Schiedsgericht auf Antrag einer Partei Verfügungen zur Wahrung der Vertraulichkeit des Schiedsverfahrens (oder von anderen in Verbindung mit dem Schiedsverfahren stehenden Angelegenheiten) erlassen kann. Zudem kann das Schiedsgericht, wie bereits nach der alten Schiedsordnung von 1998, Massnahmen zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen und von vertraulichen Informationen ergreifen.
Abschliessende Bemerkungen
Insgesamt betrachtet behält die neue ICC-Schiedsordnung ihre wesentlichen Merkmale bei. Gleichzeitig wurde die Schiedsordnung um einige neue Bestimmungen ergänzt, die unter anderem Streitigkeiten im Zusammenhang mit mehreren Verträgen oder mit mehreren Parteien betreffen. Zudem wird für ein effizienteres Verfahrensmanagement gesorgt und die Möglichkeit eröffnet, vorsorgliche Massnahmen vom neu vorgesehenen Eilschiedsrichter zu verlangen.
Die revidierte ICC-Schiedsordnung bezweckt einerseits, in komplexen Fragen Klarheit zu schaffen; andererseits sollen Dauer und Kosten von Schiedsverfahren reduziert werden. Daher ist davon auszugehen, dass die neue Schiedsordnung sowohl bei Praktikern (Rechtsanwälten und Schiedsrichtern) als auch den Benutzern der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit (namentlich Unternehmungen, die Schiedsklauseln routinemässig in Verträgen verwenden) auf Zustimmung stossen wird.
Im Übrigen bildet die Revision der ICC-Schiedsordnung Teil eines anhaltenden internationalen Trends zur Modernisierung von Schiedsregeln. Zum Beispiel wurden im Jahre 2010 die neuen IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration sowie die revidierte UNCITRAL-Schiedsordnung verabschiedet. Die Schweizerische Schiedsordnung (Swiss Rules) befindet sich zur Zeit ebenfalls in Revision. Der kommende meyerlustenberger-Newsletter wird die revidierten Swiss Rules, die voraussichtlich im Frühjahr 2012 in Kraft treten werden, behandeln und würdigen.