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EGMR: Online-Medien haften nicht für Nutzerkommentare


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Am 2. Februar 2016 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Urteil die Haftung zweier ungarischer Forenbetreiber abgelehnt, nachdem anonyme Nutzer ein Unternehmen aufgrund dessen zweifelhaften Geschäftsmodells beschimpft hatten. Der EGMR kritisierte die ungarischen Gerichte dafür, sich in dem Fall ohne hinreichende Güterabwägung gegen die Meinungsfreiheit entschieden zu haben und erblickte darin einen Verstoss gegen die EMRK. Ausserdem befand der EGMR das Notice-and-Takedown-Verfahren «in vielen Fällen» für die angemessene Methode, um die Balance zwischen Meinungsfreiheit und allfälligen Rechtsverletzungen durch Äusserungen sicherzustellen. Entscheidend sei aber eine Einzelfallbeurteilung.

Der Sachverhalt

Im Jahr 2010 publizierten die Budapester Selbstverwaltungseinrichtung ungarischer Internet-Content-Provider (MTE), sowie das populäre ungarische Newsportal Index.hu einen Artikel, in dem eine Immobilienagentur für seine „unethischen und irreführenden“ Geschäftspraktiken kritisiert wurde. Das Unternehmen warb etwa mit einem Angebot, wonach Kunden 30 Tage lang kostenfrei auf ihrer Internetseite Werbung schalten könnten. Nach Ablauf dieser Frist ging der bislang kostenlose Werbeauftrag jedoch ohne entsprechende Benachrichtigung in ein entgeltliches Vertragsverhältnis über, wobei selbst das Entfernen der teils schon wieder überholten Werbungen kostenpflichtig war.

Der Artikel provozierte im angebotenen Kommentarfeld Wortmeldungen von Nutzern der Website, die pseudonymisiert und unter Verwendung von Kraftausdrücken ihren Ärger über die zweifelhaften Geschäftspraktiken der Immobilienagentur kundtaten.

Daraufhin verklagte das betroffene Unternehmen die Betreiber von Index.hu und MTE auf Schadenersatz wegen Ruf- und Geschäftsschädigung, den es schliesslich von der Kúria, dem höchsten ungarischen Gericht, nach einem jahrelangen Rechtsstreit vor mehreren Instanzen auch zugesprochen erhielt. Ausserdem wurden die Internetportale bezüglich aller auf ihren Websites getätigten Äusserungen für voll verantwortlich erklärt.

Internetportale setzen sich zur Wehr

Index.hu und MTE bestritten in der Folge die Urteile der ungarischen Gerichte und machten eine Verletzung der in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) statuierten Presse- und Meinungsfreiheit geltend. Die Beschwerdeführer waren der Ansicht, die Nutzerkommentare hätten das Recht des Unternehmens auf guten Ruf nicht verletzt. Das Geschäftsgebaren des Unternehmens sei im Übrigen bereits vor dem Gerichtsverfahren Gegenstand zahlreicher Beschwerden bei Verbraucherschutzorganisationen gewesen, weshalb ein allgemeines Interesse an einer öffentlichen Debatte über die Angelegenheit bestanden hatte.

Die Betreiber der Websites waren auch der Auffassung, mit ihrem Kommentarfiltersystem ihren Aufsichtspflichten nachgekommen zu sein. Zur Anwendung kam das sogenannte Notice-And-Take-Down-Verfahren, welches vorsieht, dass der Host auf entsprechende Beanstandung hin den entsprechenden Content umgehend vom Netz entfernt. So verfuhren die Betreiber auch mit den gerügten Kommentaren im vorliegenden Fall. Weil dies den ungarischen Gerichten nicht zu genügen schien, befürchteten die Betreiber, die Kommentare in ihrem Forum einer Vorkontrolle unterziehen zu müssen, was sich nicht mit ihrer Vorstellung von der Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäusserung vereinbaren liess.

EGMR: Freiheit der Meinungsäußerung geht vor

In seinem Urteil folgte der EGMR weitgehend der Argumentation der Beschwerdeführer. Die ungarischen Richter hätten es demnach unterlassen, die notwendige Abwägung zwischen dem Recht auf freie Meinungsäusserung und den Persönlichkeitsrechten des Unternehmens vorzunehmen.

Der EGMR unterstrich in seinem Urteil die Wichtigkeit der Freiheit der Meinungsäußerung. Diese stelle eine wesentliche Grundlage einer demokratischen Gesellschaft dar und sei eine der Grundvoraussetzungen für den gesellschaftlichen Fortschritt und für jede Selbstverwirklichung des Individuums. Es gehe dabei in Art. 10 EMRK nicht nur um Information oder Ideen, die positiv aufgenommen oder als harmlos oder als gleichgültig betrachtet werden, sondern auch um Aussagen, die schockieren, beunruhigen oder beleidigen. Dies seien die Forderungen des Pluralismus, der Toleranz und der Offenheit, ohne die es keine demokratische Gesellschaft gebe.

Nutzerkommentare nicht eindeutig rechtswidrig

Ferner kritisierten die Strassburger Richter, dass sich die ungarischen Gerichte einzig mit der Frage nach der Haftung von Index.hu und MTE auseinandergesetzt und diejenige der Kommentatoren selbst ausser Betracht gelassen haben.

In Bezug auf anstössige Nutzerkommentare hatte der EGMR in einem früheren Fall („Fall Delfi“ vom 16. Juni 2015) entschieden, dass Internetportale – insbesondere bei Drohungen gegen namentlich benannte Personen – grundsätzlich für Nutzerkommentare haftbar gemacht werden könnten.

Im vorliegenden Fall befanden die Richter jedoch, dass die Kommentare, so niveaulos sie teilweise auch waren, weder einen konkreten Aufruf zur Gewalt beinhaltet, noch eine offensichtliche Rufschädigung des Unternehmens zur Folge gehabt hätten und somit auch nicht eindeutig rechtswidrig gewesen seien. Der Nachweis einer Rufschädigung hätte demnach einer stichhaltigen Argumentation bedurft. Diese sei jedoch ausgeblieben.

Notice-And-Take-Down-Verfahren „in vielen Fällen“ sachgemäss

Abschliessend beurteilte der EGMR das Notice-And-Take-Down-Verfahren als in vielen Fällen geeignetes Werkzeug, um den Rechten und Interessen aller Beteiligten gerecht zu werden, sofern eine effektive und rasche Handlungsmöglichkeit gewährleistet sei. Eine Vorabprüfung werde demnach nicht verlangt.

Fazit

Ob die Entscheidung tatsächlich die von vielen Online-Medien erhofften weitreichenden Wirkungen zeitigt, wird sich noch weisen müssen. Denn der EGMR stellte mit seinem Urteil klar, dass in der Frage nach der Haftung für sogenannte Hass-Postings im Endeffekt immer der Einzelfall entscheidend sei. Er ergänzte: „Dies ist das erste Post-Delfi Urteil, aber es wird natürlich nicht das letzte sein. Es wird unausweichlich weitere Fälle betreffend die Haftung für Inhalte von im Internet getätigten Äusserungen geben. Heute ist es zu früh, um pauschalisierte Rückschlüsse zu ziehen.“ Auch nach dem Urteil können sich also weder die Urheber noch die Verbreiter von solchen anstössigen Äusserungen in Sicherheit wiegen.

Weitere Informationen:

Ansprechpartner: Lukas Bühlmann


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