EU-Kartellrecht: Revision der Vorschriften für horizontale Abreden verabschiedet


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Am 14. Dezember 2010 hat die EU-Kommission das neue ab 2011 geltende Regelwerk für die kartellrechtliche Beurteilung von Abreden zwischen Wettbewerbern verabschiedet. Neben den Gruppenfreistellungsverordnungen für Spezialisierungs- sowie Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen wurden auch die Erläuterungen in den Leitlinien für horizontale Abreden revidiert. Im Vergleich zu den jeweiligen Entwürfen (vgl. BR-News vom 1.9.2010) wurden zahlreiche Änderungen vorgenommen.

Die beiden Gruppenfreistellungsverordnungen des EU-Rechts für horizontale Abreden (F&E- sowie Spezialisierungs-GVO) enthalten die Voraussetzungen, unter welchen Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern vom Kartellverbot in Art. 101 Abs. 1 AEUV und entsprechenden Verbotsnormen in den nationalen Gesetzen der EU-Mitgliedstaaten ausgenommen sind. Für Unternehmen werden dadurch sog. «safe harbours» geschaffen. Allerdings kann eine Vereinbarung, welche die entsprechenden Voraussetzungen nicht erfüllt, dennoch zulässig sein. Jedoch ist in diesem Fall eine aufwändige Einzelfallprüfung erforderlich. Die Leitlinien für horizontale Abreden enthalten insbesondere hierzu umfangreiche Anleitungen. Neben Ausführungen zu Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung sowie Produktions-, Einkaufs- und Vermarktungsvereinbarungen wurde in den revidierten Leitlinien auch ein Kapitel zum Informationsaustausch eingefügt und das Kapitel zu Vereinbarungen über Normen grundlegend überarbeitet .

Wie bereits im Entwurf der Leitlinien (vgl. BR-News vom 1.9.2010) hält die Kommission fest, dass ein Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern einerseits zu Effizienzgewinnen, andererseits aber auch zu Wettbewerbsbeschränkungen führen kann. Im Vergleich zum Entwurf der Leitlinien wurden die Ausführungen zur Frage, unter welchen Umständen ein Informationsaustausch eine abgestimmte Verhaltensweise und damit eine Abrede im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV begründet, weiter ausgebaut. Dies ist von Bedeutung, weil der Austausch von Informationen auch ohne ausdrückliche Vereinbarung eine Koordinierung des Marktverhaltens bewirken kann, die grundsätzlich unzulässig ist, sofern damit eine Wettbewerbsbeschränkung bezweckt oder bewirkt wird. Klargestellt wird in den Leitlinien insbesondere, dass eine abgestimmte Verhaltensweise:

  • vorliegt, wenn der Informationsaustausch die strategische Ungewissheit auf dem Markt in Bezug auf das Verhalten der Konkurrenz verringert; der Austausch strategischer Daten (z.B. der künftigen Preis) zwischen Wettbewerbern wird folglich einer Abstimmung gleichgesetzt, weil er die Unabhängigkeit des Verhaltens der Wettbewerber auf dem Markt verringert und Wettbewerbsanreize mindert.
  • auch vorliegen kann, wenn nur ein einzelnes Unternehmen gegenüber einem Wettbewerbern (einseitig) strategische Informationen offenlegt und dieser dies akzeptiert. Bedeutend ist in diesem Zusammenhang auch die folgende Aussage der Kommission: «Erhält ein Unternehmen strategische Daten von einem Wettbewerber (in einer Sitzung, per Post oder elektronisch), wird davon ausgegangen, dass es die Informationen akzeptiert und sein Markverhalten entsprechend angepasst hat, es sei denn, es erklärt ausdrücklich, dass es die Daten nicht bekommen will».
  • im Allgemeinen nicht vorliegt, wenn es sich um eine einseitige Offenlegung von Informationen eines Unternehmens handelt, die auch «echt öffentlich» ist, zum Beispiel in einer Zeitung.

Die Kommission betont jedoch, dass das Vorliegen einer abgestimmten Verhaltensweise und damit einer Abrede im Sinne von Art. 101 AEUV allein noch nichts über die Unzulässigkeit aussage. Denn dazu bedarf es zusätzlich einer damit bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung. Zu diesem Punkt hält die Kommission fest, dass der Austausch unternehmensspezifischer Daten über geplantes künftiges Preis- oder Mengenverhalten unter Wettbewerbern als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung betrachtet werden sollte. Das bedeutet, dass in solchen Fällen gar nicht erst untersucht würde, ob tatsächlich Wettbewerbsbeschränkungen vorliegen, und im Regelfall hohe Geldbussen zu befürchten sind. Im Übrigen sind die Auswirkungen auf den Wettbewerb jeweils im Einzelfall zu untersuchen. Die Leitlinien enthalten zu den dabei massgebenden Kriterien ausführliche Erläuterungen. Neben der Marktstellung der beteiligten Unternehmen, der Häufigkeit und der Öffentlichkeit des Informationsaustausches sind die Art der Informationen und die Merkmale des relevanten Marktes entscheidend. Hierzu sei festgehalten, dass es nach Ansicht der Kommission «auf transparenten, konzentrierten, nicht-komplexen, stabilen und symmetrischen Märkten» wahrscheinlicher ist, dass wettbewerbswidrige Ergebnisse herbeigeführt werden. Im Gegensatz dazu seien negative Auswirkungen unwahrscheinlicher, wenn der Austausch «aggregierte» Informationen betrifft, d.h. Daten, die nur schwer Rückschlüsse auf ein Unternehmen zulassen, oder historische Daten zum Gegenstand hat, d.h. Daten, die keinen Aufschluss über das künftige Verhalten der Konkurrenz geben.

Im Kapitel zu Vereinbarungen über Normen (insb. Tz. 280; vgl. dazu auch vgl. BR-News vom 1.9.2010) werden im Sinne eines «safe harbours» die Voraussetzungen festgehalten und erläutert, nach denen eine Normenvereinbarung grundsätzlich als zulässig beurteilt wird. Die Kriterien sind die Folgenden:

  • die Möglichkeit zur uneingeschränkten Mitwirkung am Normungsprozess muss gegeben sein,
  • das Verfahren für die Annahme der betreffenden Norm muss transparent sein,
  • die Normenvereinbarung enthält keine Verpflichtung zur Einhaltung der Norm und
  • die Normenvereinbarung gewährt Dritten den Zugang zu der Norm zu fairen, zumutbaren und diskriminierungsfreien („FRAND“) Bedingungen.

Im selben Kapitel (Tz. 300 ff.) werden auch Voraussetzungen dargestellt, nach welchen Vereinbarungen über Standardverkaufsbedingungen zwischen Wettbewerbern im Regelfall als unproblematisch anzusehen sind. Dazu zählen die Folgenden:

  • uneingeschränkte Beteiligung der Wettbewerber an der Festlegung der Standardbedingungen,
  • die Standardbedingungen sind unverbindlich und uneingeschränkt zugänglich,
  • die Standardbedingungen enthalten keine Bestimmungen über Preise, Rabatte, Zinsen etc. oder andere wichtige Eigenschaften von Produkten für Endverbraucher,
  • es ist unwahrscheinlich, dass die Standardbedingungen zur «de facto- Norm» werden, und folglich keine Einschränkung des Produktangebots zu erwarten ist.

Im Entwurf der Leitlinien war eine Änderung zur Frage vorgesehen, welche Regeln der Leitlinien auf Vereinbarungen anzuwenden sind, die verschiedene Stufen der Zusammenarbeit zum Gegenstand haben (z.B. sowohl F&E als auch Produktion; vgl. BR-News vom 1.9.2010). Die revidierte Fassung hat sich nun wieder der Formulierung der alten Leitlinien angenähert. Grundsätzlich sollen in der Regel alle Kapitel der Leitlinien zu den verschiedenen Aspekten der Zusammenarbeit für die Prüfung relevant sein. Enthalten die massgebenden Kapitel jedoch differenzierte Aussagen z.B. zu «safe harbours» oder Abreden, die als bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen erachtet werden, so ist für die gesamte Vereinbarung das Kapitel heranzuziehen, welches den eigentlichen Schwerpunkt (centre of gravity) der integrierten Zusammenarbeit behandelt. Bei einer Vereinbarung die sowohl F&E als auch Produktion zum Gegenstand hat wäre dies gemäss den Leitlinien in der Regel die gemeinsame F&E, da es zu der gemeinsamen Produktion nur dann kommt, wenn die gemeinsame F&E erfolgreich verläuft.

Anders als im Entwurf fehlen in der definitiven Fassung der Leitlinien die hilfreichen Ausführungen zur Anwendung der Wettbewerbsregeln auf Vereinbarungen zwischen Gemeinschaftsunternehmen (Joint Ventures) und ihren Muttergesellschaften. Es ist davon auszugehen, dass diese Lücke auf noch hängige Beschwerdeverfahren vor den EU-Gerichten zu diesem Problemkreis zurückzuführen ist.

Im Rahmen der Revision der F&E-GVO wurde deren Anwendungsbereich erweitert. Künftig wird auch die sog. Auftragsforschung davon erfasst, d.h. eine Kooperation bei welcher eine Partei lediglich die F&E-Aktivitäten der anderen Partei finanziert. Ferner wurden auch die Möglichkeiten der Parteien, die Ergebnisse der F&E gemeinsam zu verwerten, erweitert. Die Parteien können nunmehr auch dann von der Freistellung der F&E-GVO profitieren, wenn nur eine Partei die Vertragsprodukte in der EU auf der Grundlage einer Exklusivlizenz der anderen Partei verkauft. Als Freistellungsvoraussetzung ist in der definitiven Fassung jedoch – anders als im Entwurf – nicht mehr vorgesehen, dass die Parteien vor Beginn der F&E vereinbaren müssen, dass sie sämtliche relevanten geistigen Eigentumsrechte offenlegen.

Mit der Revision der Spezialisierungs-GVO wurde klargestellt, dass die Freistellung auch für Spezialisierungsvereinbarungen gilt, unter denen eine der Parteien ihre Produktion nur teilweise einstellt (z.B. Schliessung einer von zwei Produktionsstätten). Ferner wurde eine zusätzliche Marktanteilsschwelle von 20% für den Markt für nachgelagerte Produkte eingeführt. Diese kommt zur Anwendung bei Vereinbarungen über die Herstellung von Zwischenprodukten, die eine Partei wiederum für die Produktion nachgelagerter Produkte verwendet.

Schliesslich wurde in beiden Verordnungen auch die Definition von «potenziellen Wettbewerbern» präzisiert. In der definitiven Fassung der Verordnungen ist ferner eine – im Vergleich zum Entwurf längere –Übergangsregelung eingeführt worden. Danach werden die bisherigen GVO nach 2011 noch 2 Jahre weiter auf Vereinbarungen anwendbar sein, welche nur die Voraussetzungen der bisherigen GVO erfüllen, aber nicht diejenigen der neuen GVO.

Weitere Informationen:

Ansprechpartner: Lukas Bühlmann


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