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Am 23. Januar 2018 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) über ein Vorabentscheidungsersuchen des italienischen Staatsrats in der Angelegenheit F. Hoffmann-La Roche / Novartis geurteilt. Der Entscheid setzt sich mit der Frage auseinander, ob und unter welchen Umständen off-label angewandte Arzneimittel bei der Marktabgrenzung von Arzneimitteln zu berücksichtigen sind. Zudem beantwortet der EuGH die Frage, ob Absprachen über die Verbreitung irreführender Information zu Nebenwirkungen von Arzneimitteln bei deren off-label-Anwendung bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts darstellen können.
Ausgangssachverhalt – die off-label-Anwendung von Avastin
Genentech, ein Tochterunternehmen von Roche, hat die beiden Arzneimittel Avastin und Lucentis entwickelt. Das von Roche vertriebene Avastin wurde von der Europäischen Kommission im Jahr 2005 für die Behandlung bestimmter Tumorerkrankungen zugelassen. Die Kosten von Avastin werden im italienischen Gesundheitssystem erstattet. 2007 hat die EU-Kommission Lucentis, welches von Novartis in Lizenz vertrieben wurde, für die Behandlung von Augenkrankheiten zugelassen. Anfänglich noch nicht erstattungsfähig, wurde Lucentis Ende 2008 in das Verzeichnis der erstattungsfähigen Arzneimittel aufgenommen.
Bevor Lucentis in den Markt eingeführt wurde, hatten einige Ärzte bereits damit begonnen, Patienten mit Augenerkrankungen Avastin zu verschreiben. Da Avastin jedoch wie erwähnt eigentlich für die Behandlung bestimmter Tumorerkrankungen zugelassen wurde, handelt es sich hierbei um eine sogenannte „off-label“-Anwendung, also für eine Indikation, die nicht von der Marktzulassung erfasst war. Nichtsdestotrotz wurden die Kosten für die off-label-Anwendung zur Behandlung von Makuladegenerationen (einer häufigen Ursache für altersbedingte Sehbehinderungen) gemäss den einschlägigen italienischen Regelungen vergütet – jedenfalls solange, bis Lucentis und weitere Arzneimittel erstattungsfähig wurden. Nach diesem Zeitpunkt wurde die Erstattungsfähigkeit von Avastin schrittweise ausgeschlossen.
Im Oktober 2012 wurde die Erstattungsfähigkeit von Avastin für die off-label-Anwendung grundsätzlich ausgeschlossen. Anlass hierzu gab, dass die EU-Kommission die Zusammenfassung der Merkmale (besser bekannt unter „Summary of Product Characteristics“ oder „SmPC“, vergleichbar zu den schweizerischen Fachinformationen) von Avastin dahingehend angepasst hatte, dass bestimmte unerwünschte Nebenwirkungen bei der off-label-Anwendung zur Behandlung von Augenerkrankungen angeführt wurden. Diese Anpassung wurde von Roche, der Distributorin von Avastin, selbst initiiert.
Sanktionierung von Roche und Novartis durch die italienische Wettbewerbsbehörde
Die italienische Wettbewerbsbehörde („Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato“, „AGCM“) verhängte im Februar 2014 sowohl gegen Roche als auch Novartis Bussen in der Höhe von je etwas mehr als EUR 90 Mio., da sie gegen das Kartellverbot gemäss Art. 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verstossen hätten.
Konkret habe eine Absprache bestanden, dass irreführende Informationen über die Nebenwirkungen der off-label-Anwendung von Avastin verbreitet werden sollten, obschon Avastin und Lucentis für die Behandlung von Augenerkrankungen unter allen Gesichtspunkten gleichwertig gewesen seien. Durch die Manipulation der Einschätzung der Risiken beim Einsatz von Avastin in der Augenheilkunde hätten Roche und Novartis trotz gegenteiliger wissenschaftlicher Erkenntnisse Sicherheitsbedenken hinsichtlich der Anwendung von Avastin hervorrufen und damit eine künstliche Unterscheidung zwischen Avastin und Lucentis schaffen wollen. Dies sei mit dem Zweck erfolgt, dem Wettbewerbsdruck entgegenzuwirken, der von der off-label-Anwendung vom wesentlich günstigeren Avastin ausging (der Preis von Lucentis betrug mehr als das zehnfache des Preises von Avastin). Dies habe dazu geführt, dass die weit verbreitete off-label-Anwendung von Avastin in der Augenheilkunde eingedämmt wurde, die Verkäufe von Avastin zurückgegangen seien und die Nachfrage hin zu Lucentis verlagert wurde. Daraus seien für den staatlichen Gesundheitsdienst alleine im Jahr 2012 Mehrkosten im Umfang von EUR 45 Mio. entstanden.
Nach erst- und zweitinstanzlicher Bestätigung der Busse entschloss sich der italienische Staatsrat („Consiglio di Stato“), das Verfahren auszusetzen und dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Darüber hat die Grosse Kammer des EuGH im Urteil in der Rechtssache C-179/16 vom 23. Januar 2018 entschieden. Gestützt auf dieses Urteil wird der italienische Staatsrat nun über die von Roche und Novartis eingelegten Rechtsmittel zu entscheiden haben.
Off-label angewandte Arzneimittel im relevanten Markt?
Zentral war im Vorabentscheidungsverfahren insbesondere die Frage, ob für Arzneimittel bei der Definition des relevanten Markts im Rahmen der Anwendung von Art. 101 AEUV ausser den für die Behandlung der betreffenden Erkrankungen zugelassenen Arzneimitteln auch off-label angewandte Arzneimittel einbezogen werden können und, wenn ja, ob die Wettbewerbsbehörde die arzneimittelrechtliche Konformität solcher off-label-Anwendungen berücksichtigen muss.
Der sachlich relevante Produktmarkt umfasst sämtliche Erzeugnisse, die von Verbrauchern hinsichtlich ihrer Eigenschaften, ihres Preises und ihres vorgesehenen Verwendungszwecks als austauschbar (substituierbar) angesehen werden. Bei Pharmazeutika wird für die Austauschbarkeit bzw. Marktabgrenzung regelmässig die dritte Stufe des anatomisch-therapeutisch-chemischen Klassifikationssystems („ATC 3“) als Ausgangspunkt herangezogen.
Die Austauschbarkeit beurteilt sich aber nicht allein mit Blick auf objektive Eigenschaften, sondern auch unter Berücksichtigung der Wettbewerbsbedingungen sowie der Struktur der Nachfrage und des Angebots. In diesem Zusammenhang hielt der EuGH fest, dass unrechtmässig hergestellte oder verkaufte Arzneimittel grundsätzlich nicht als austauschbar angesehen werden und folglich auch nicht in den relevanten Markt fallen können, namentlich wegen der sowohl auf der Seite der Anbieter als auch der Abnehmer (Medizinalpersonen und Patienten) mit solchen illegalen Arzneimitteln verbundenen Risiken.
Nach einer Auseinandersetzung mit den einschlägigen Bestimmungen, insbesondere mit Art. 5 Abs. 1 des Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel, kam der EuGH jedoch zum Schluss, dass das EU-Arzneimittelrecht weder die off-label-Verschreibung von Arzneimitteln noch das Umpacken von Arzneimitteln im Hinblick auf eine off-label-Anwendung verbietet. In diesem Zusammenhang hielt der EuGH auch fest, dass ausschliesslich die zuständigen Arzneimittelbehörden oder Gerichte und nicht die nationalen Wettbewerbsbehörden die Einhaltung der arzneimittelrechtlichen Vorschriften überprüfen können. Aus diesem Grund müssen die Wettbewerbsbehörden gemäss EuGH das Resultat einer allfälligen Prüfung durch die Arzneimittelbehörden im Rahmen der Prüfung der Austauschbarkeit und damit der Marktdefinition berücksichtigen, indem sie eine mögliche Auswirkung dieses Ergebnisses auf die Struktur von Nachfrage und Angebot beurteilen.
Im Ausgangssachverhalt war für den EuGH wesentlich, dass die von Roche beabsichtigte Aufnahme bestimmter unerwünschter Folgen der intravitrealen Anwendung von Avastin in die Liste der „Nebenwirkungen“ in den SmPC von Avastin nicht erfolgte, sondern nur unter „Besondere Warnhinweisen und Vorsichtsmassnahmen für die Anwendung“ erwähnt wurden. Unter anderem deshalb, so der EuGH, habe die AGCM für die Zwecke der Anwendung von Art. 101 AEUV folgern dürfen, dass Avastin zum gleichen Markt gehöre wie ein anderes, bei den betreffenden therapeutischen Indikationen spezifisch zugelassenes Arzneimittel, vorliegend also insbesondere Lucentis.
In grundsätzlicher Hinsicht hielt der EuGH fest, dass der relevante Markt für die Zwecke der Anwendung von Art. 101 AEUV „in Anbetracht der Besonderheiten, die der Wettbewerb im Pharmasektor aufweist, grundsätzlich die Arzneimittel umfassen kann, die bei denselben therapeutischen Indikationen eingesetzt werden können, da sich die verschreibenden Ärzte hauptsächlich davon leiten lassen, was therapeutisch angebracht ist und wie wirksam die Arzneimittel sind“. Im Ausgangssachverhalt war unumstritten, dass Avastin häufig zur Behandlung von Augenerkrankungen verschrieben wurde, obwohl es dafür nicht zugelassen war. Dieser Umstand zeigte gemäss EuGH, dass das off-label angewandte Avastin ein Substitut des für die betreffenden Augenerkrankungen zugelassenen Lucentis war. Die off-label-Nachfrage nach Avastin für die Behandlung von Augenerkrankungen konnte aufgrund der Verschreibungspflicht denn auch genau beurteilt werden.
Absprache über die Nebenwirkungen der off-label-Anwendung von Avastin als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung?
Neben der diskutierten Definition des relevanten Marktes stand insbesondere auch die Frage im Fokus, ob eine Absprache zwischen zwei Unternehmen, die zwei konkurrenzierende Arzneimittel vermarkten, über die Verbreitung von Informationen zu den Nebenwirkungen der off-label-Anwendung eines dieser Arzneimittel eine „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung („restriction by object“) im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV darstellen. Diese Frage war vor dem Hintergrund zu beantworten, dass die Informationen über Nebenwirkungen einerseits auf einem ungesicherten wissenschaftlichen Kenntnisstand beruhen und andererseits zum Zweck erfolgen, den Wettbewerbsdruck auf das off-label angewandte Arzneimittel zu verringern.
In diesem Zusammenhang betonte der EuGH, dass der Begriff der bezweckten Wettbewerbsbeschränkung eng auszulegen ist und nur auf bestimmte Arten der Koordination zwischen Unternehmen angewandt werden kann, die den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigen. Nur dann sei keine Prüfung der Wirkungen mehr notwendig. Für die Feststellung, ob eine Absprache als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung qualifiziert werden kann, ist insbesondere auf ihren Inhalt, auf die verfolgten Ziele und den wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang, in dem die Absprache steht, abzustellen. Wenn sich die Frage einer Absprache im Arzneimittelsektor stellt, ist gemäss EuGH insbesondere zu berücksichtigen, wie sich das EU-Arzneimittelrecht auf diese Erzeugnisse auswirkt.
Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang etwa, dass Avastin einem Pharmakovigilanz-System unter Aufsicht der Europäische Arzneimittel-Agentur („European Medicines Agency“, „EMA“) unterliegt, welches dazu dient, Informationen über die Risiken (und insbesondere Nebenwirkungen) von Arzneimitteln für die Gesundheit der Patienten zusammenzutragen. Informationen über die Arzneimittel gegenüber Medizinalpersonen und der Öffentlichkeit müssen nach den einschlägigen Vorschriften in objektiver und nicht irreführender Weise dargelegt werden. Eine Verletzung dieser Pflichten ist sanktionsbedroht.
Im Ausgangssachverhalt kam die AGCM wie bereits erwähnt zum Schluss, dass es der gemeinsam beschlossenen Strategie von Roche und Novartis entsprach, dem von der off-label-Anwendung von Avastin ausgehenden Wettbewerbsdruck auf den Absatz von Lucentis entgegenzuwirken. Die Absprache habe zudem auch darauf abgezielt, der EMA Informationen mitzuteilen, die geeignet gewesen seien, die Einschätzung der mit der off-label-Anwendung von Avastin verbundenen Risiken aufzubauschen, um eine Änderung der SmPC von Avastin sowie die Genehmigung des Versands eines Schreibens an Medizinalpersonen zu erreichen, mit dem deren Aufmerksamkeit auf die betreffenden Nebenwirkungen gelenkt werden sollte.
Für den EuGH war diesbezüglich von Bedeutung, dass die Pharmakovigilanz-Pflichten hinsichtlich Avastin alleine Roche als Inhaberin der Marktzulassung, nicht hingegen anderen Unternehmen (und namentlich nicht Novartis) oblagen. Gemäss EuGH kann der Umstand, dass sich zwei Unternehmen, die konkurrenzierende Arzneimittel vermarkten, für die Verbreitung von Informationen zu einem Arzneimittel, das nur eines dieser Unternehmen vertreibt, abstimmen, einen Anhaltspunkt dazu darstellen, dass andere Zwecke als die Pharmakovigilanz verfolgt werden.
Weiter erachtete es der EuGH für entscheidend, dass in einem Fall wie dem Ausgangssachverhalt angesichts der Besonderheiten des Arzneimittelmarkts vorhersehbar gewesen sei, dass die (sanktionsbedrohte) Verbreitung irreführender Informationen über Nebenwirkungen der off-label-Anwendung von Avastin Ärzte zum Verzicht auf die Verschreibung von Avastin veranlassen und damit die erhoffte Verringerung der Nachfrage bewirken würde.
Dies reichte dem EuGH aus, um bei der von der AGCM festgestellten Absprache zwischen Roche und Novartis von einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV auszugehen. Die Wirkungen der Abrede waren folglich nicht mehr zu prüfen. Die Möglichkeit einer Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV schloss der EuGH ausdrücklich aus.
Nebenabreden zu Lizenzvereinbarungen als «safe harbor» für bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen?
Neben den erläuterten Rechtsfragen hat der EuGH schliesslich geprüft, ob etwaige zwischen den Parteien einer Lizenzvereinbarung verabredete Wettbewerbsbeschränkungen, auch wenn sie nicht in der Lizenzvereinbarung selbst vorgesehen sind, der Anwendung von Art. 101 AEUV entzogen seien, weil es sich etwa um Nebenabreden handelt.
Nach der Rechtsprechung des EuGH fällt eine Beschränkung, die einem Dritten (z.B. einem Konkurrenten) auferlegt wird, nicht unter das Kartellverbot von Art. 101 AEUV, wenn sie für die Durchführung einer Tätigkeit (z.B. den Abschluss eines Lizenzvertrages), die selbst wettbewerbsneutral oder sogar prokompetitiv wirkt, objektiv notwendig und verhältnismässig ist. Dies kann etwa der Fall sein, wenn ohne eine bestimmte Nebenabrede der Abschluss eines (wettbewerbsfördernden oder -neutralen) Lizenzvertrages unmöglich wäre. Eine solche Beschränkung lässt sich von der Tätigkeit selbst nicht unterscheiden, weshalb die Prüfung unter Art. 101 AEUV gemeinsam erfolgen muss.
Im Ausgangssachverhalt hat der EuGH die objektive Notwendigkeit der von der AGCM festgestellten Absprache bezüglich den irreführenden Informationen über die off-label-Anwendung von Avastin klar verneint. Dies folgte gemäss EuGH bereits aus dem Umstand, dass die Absprache weder in der Lizenzvereinbarung noch anlässlich ihres Abschlusses verabredet wurde, sondern erst mehrere Jahre nach Abschluss des Lizenzvertrages, und zwar insbesondere deshalb, um der durch die Verschreibungspraxis der Ärzte aufgekommenen Austauschbarkeit von Avastin und Lucentis Einhalt zu gebieten.
Der Umstand, dass die Absprache darauf abgezielt haben mag, dass Avastin seltener und Lucentis häufiger angewandt wird, sodass Novartis die von Genentech eingeräumten Technologierechte an Lucentis rentabler verwerten kann, änderte daran nichts. Der EuGH hielt diesbezüglich ausdrücklich fest, dass der Umstand, dass eine Tätigkeit ohne eine Beschränkung nur schwerer durchführbar oder weniger rentabel wäre, noch nicht zur geforderten objektiven Notwendigkeit führt.
Fazit
Der Entscheid des EuGH ist insbesondere mit Blick auf dessen Aussage relevant, wonach off-label angewandte Arzneimittel unter Umständen auch in den relevanten Produktmarkt eines Arzneimittels einbezogen werden können und müssen. Die Erwägungen des EuGH sind jedoch stark vom Einzelfall geprägt, weshalb diese nur zurückhaltend zu verallgemeinern sind. Bei der Marktabgrenzung handelt es sich zudem um keine exakte Wissenschaft und die Wettbewerbsbehörden verfügen diesbezüglich über einen gewissen Spielraum. Mit Bestimmtheit lässt sich somit kaum sagen, ob bei ähnlich gelagerter Ausgangslage im Fall eines Marktmachtmissbrauchs (Art. 102 AEUV) gleich entschieden worden wäre; für den Nachweis einer marktbeherrschenden Stellung haben die Behörden in solchen Fällen ein Interesse an einer eher engen Marktabgrenzung.
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