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Am 29. September 2022 hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) geurteilt, dass eine juristische Person als Versicherungsvermittler im Sinne der europäischen Versicherungsvertriebsrichtlinie (Richtlinie (EU) 2016/97) (die IDD) qualifiziert, wenn sie ihren Kunden gegen Vergütung eine Mitgliedschaft anbietet, mit dem Versprechen, dass die Kunden im Rahmen einer Gruppenversicherung zur Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen berechtigt sind. Das EuGH-Urteil hat zur Folge, dass das Angebot eine Eintragungspflicht der juristischen Person als Versicherungsvermittler auslöst und die Anforderungen der IDD zu berücksichtigen sind. In der Schweiz ist die Rechtsfrage ungeklärt.
Einkauf in die Gruppenversicherung
Die deutsche TC Medical Air Ambulance Agency GmbH (die Gesellschaft) verkauft Mitgliedschaften, die zur Inanspruchnahme verschiedener Leistungen berechtigen, so etwa im Falle einer Erkrankung oder eines Unfalls im Ausland. Der Verkauf erfolgt unter anderem über Werbeunternehmen. Mittels Unterzeichnung einer Aufnahmeerklärung erwerben die Kunden den Leistungsanspruch. Die Leistungen werden unter anderem aus einer Gruppenversicherung (in der Schweiz: Kollektivversicherung) erbracht, durch Abtretung der Ansprüche der Gesellschaft an die betroffenen Kunden. Die Gruppenversicherung wurde von der Gesellschaft als Versicherungsnehmerin abgeschlossen, sie bezahlt auch die Prämien. Weder die Gesellschaft noch die Werbeunternehmen verfügen in Deutschland über eine Erlaubnis zur Versicherungsvermittlung. Der Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. klagte deshalb gegen die Gesellschaft auf Unterlassung ihrer Vertriebstätigkeiten. Zwecks Sicherstellung der unionskonformen Auslegung des Begriffs der Vermittlungstätigkeit hat der deutsche Bundesgerichtshof dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die entgeltliche Vermittlung von Mitgliedschaften in einer Gruppenversicherung eine Versicherungsvermittlungstätigkeit darstellt. Oder anders gefragt: Qualifiziert die entgeltliche Einräumung einer Versicherten- oder Begünstigtenstellung im Rahmen einer Gruppenversicherung als Versicherungsvermittlungstätigkeit?
Vermittlungsähnliche Tätigkeit
Gemäss IDD gilt eine juristische Person als Versicherungsvermittlerin, wenn sie eine Versicherungsvertriebstätigkeit gegen Vergütung ausübt (Ausnahmen vorbehalten). Zuerst zur Vergütung: Vorliegend bezahlen die Kunden der Gesellschaft einen Mitgliedschaftsbeitrag. Der Umstand, dass die Vergütung der Gesellschaft nicht durch den Versicherer erfolgt, soll gemäss EuGH nicht entscheidend sein. Allerdings scheint der EuGH das Kriterium der Vergütung insofern einschränken zu wollen, als er dieses indirekt von der Verwirklichung eigener wirtschaftlicher Interessen abhängig macht. So führt er als Grund für die Annahme des Tatbestandsmerkmals der Vergütung aus, dass vorliegend das Angebot der Mitgliedschaften im eigenen wirtschaftlichen Interesse der Gesellschaft und nicht im Interesse der Versicherten erfolgt.
Zum Versicherungsvertrieb: Ein solcher liegt gemäss IDD unter anderem vor, wenn Vorbereitungsarbeiten zum Abschluss eines Versicherungsvertrags ausgeführt werden, Versicherungsverträge abgeschlossen werden oder deren Abschluss vorgeschlagen wird. Der EuGH führt aus, dass diese Definition weit zu verstehen sei. So sei das entgeltliche Anbieten von Mitgliedschaften, die zur Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen unter einer Gruppenversicherung führen, mit der klassischen Tätigkeit eines Versicherungsvermittlers vergleichbar, welche die Deckung bestimmter Risiken gegen Zahlung einer Versicherungsprämie bezweckt. Daran ändere auch die Stellung der Gesellschaft als Versicherungsnehmerin nichts. Konsequent gedacht, führt das dazu, dass sämtliche Tätigkeiten als Versicherungsvertriebstätigkeiten zu gelten haben, die einer Person eine Versicherungsdeckung verschaffen, unabhängig davon, ob diese Person einen Versicherungsvertrag abschliesst. Ob das gewollt ist, scheint fraglich. Denn eine sorgfältige Auslegung des Versicherungsvertriebsbegriffs nimmt der EuGH nicht vor. Im Gegenteil: Das Urteil des EuGH scheint in erster Linie von zwei Prinzipien getrieben zu sein – der Gleichbehandlung aller Kategorien von Versicherungsvermittlern und dem Verbraucherschutz im Versicherungswesen.
Rechtslage in der Schweiz
In der Schweiz ist unklar, ob das (entgeltliche) Anbieten einer Mitgliedschaft, die zu Leistungsansprüchen unter einer Kollektivversicherung führt, eine Versicherungsvermittlungstätigkeit darstellt. Rechtsprechung dazu existiert soweit ersichtlich nicht. Folglich stellt sich die Frage, ob das EuGH-Urteil Strahlkraft auf das schweizerische Versicherungsaufsichtsrecht hat. Eine gewisse praktische Bedeutung kommt dem Urteil wohl insofern zu, als dass es der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht FINMA nicht entgangen sein dürfte. Aus rechtlicher Sicht scheint aber Zurückhaltung angebracht zu sein. Weder das geltende noch das revidierte (noch nicht in Kraft getretene) Versicherungsaufsichtsrecht lassen die weitgehende Auslegung des EuGH dem Wortlaut nach zu. Auch die übrigen Interpretationsinstrumente (Systematik, Historie, Teleologie) bringen keine Klärung. Folglich würde es der Annahme einer offenen (echten) Lücke bedürfen. Eine Lückenfüllung käme wohl nur im Falle einer Gesetzesumgehung in Frage. Dort also, wo erstens (i) eine Person einen Gruppenversicherungsvertrag abschliesst, mit dem Ziel, nicht als Versicherungsvermittler im Sinne des Versicherungsaufsichtsgesetzes zu gelten, und zweitens (ii) diese Person Dritten gezielt eine Deckung unter dem Gruppenversicherungsvertrag im eigenen wirtschaftlichen Interesse vermittelt. Ob die Person eine Vergütung erhält oder nicht, ist unter dem schweizerischen Versicherungsvermittlungsrecht nicht massgebend.
Worauf ist in der Schweiz bei Kollektivversicherungen zu achten?
Unseres Erachtens ist folgende Differenzierung in Bezug auf die Frage angebracht, ob eine Versicherungsnehmerin einer Kollektivversicherung unter dem schweizerischen Versicherungsvermittlungsrecht als Versicherungsvermittlerin zu qualifizieren ist:
- Arbeitgeber und Vereine, die Kollektivversicherungen im Interesse der Versicherten abschliessen, qualifizieren nicht als Versicherungsvermittler
- Unternehmen, die Kollektivversicherungen im Interesse ihrer Kunden abschliessen, qualifizieren nicht als Versicherungsvermittler, auch wenn der Bestand der Versicherungsdeckung möglicherweise ein zusätzliches Verkaufsargument darstellt (z.B. bei einem Reiseunternehmen)
- Unternehmen, die Deckungen unter Kollektivversicherungen vornehmlich im eigenen wirtschaftlichen Interesse Dritten gegenüber anbieten, laufen Gefahr, möglicherweise als Versicherungsvermittler qualifiziert zu werden (z.B. Unternehmen, die Kunden mittels Opting-in die Möglichkeit gewähren, gegen Bezahlung eines Entgelts Versicherungsdeckung unter der vom Unternehmen abgeschlossenen Kollektivversicherung zu erhalten). Solche Unternehmen dürften in der Regel als gebundene Versicherungsvermittler gelten, weil sie in ihrem eigenen Interesse und – zumindest indirekt – im Interesse des Versicherers handeln.
Gemäss dem schweizerischen Versicherungsvertragsgesetz haften die Versicherer für das Verhalten ihrer gebundenen Versicherungsvermittler (d.h. ihrer Agenten). Je nach Fall empfiehlt sich deshalb, dass die allgemeinen Versicherungsbedingungen der Kollektivversicherung das Anbieten von Deckungen im eigenen Interesse Dritten gegenüber verbieten.
Weitere Informationen:
- Urteil des EuGH vom 29. September 2022 (C-633/20)
- Beschluss des BGH vom Oktober 2020 (I ZR 8/19)
- Richtlinie (EU) 2016/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Januar 2016 über Versicherungsvertrieb (Neufassung)Text von Bedeutung für den EWR (IDD-Richtlinie)
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Dieser Beitrag stellt keine Rechtsberatung dar. Er gibt lediglich das gegenwärtige Verständnis des Autors in Bezug auf die diskutierte Rechtsfrage kund, ohne Berücksichtigung individueller Umstände. Jegliche Haftung für die Inhalte dieses Beitrags sind ausgeschlossen. Zudem trifft MLL Legal keine Verpflichtung, die Leser dieses Beitrags über neue Rechtsprechung, Praxisänderungen oder anderweitige Änderungen zu informieren.