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Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat kürzlich ein Urteil zum rein quantitativen Selektivvertrieb von Kraftfahrzeugen gefällt. Es bezieht sich auf die im Mai 2013 auslaufende kartellrechtliche Sonderregelung für den Automobilvertrieb, die sog. Kfz-GVO (Nr. 1400/2002/EG). Diese Verordnung legt fest, unter welchen Voraussetzungen ein Kfz-Vertriebssystem nicht gegen das grundsätzliche Verbot von Wettbewerbsbeschränkungen im EU-Vertrag (Art. 101 AEUV) verstösst. Neben weiteren Voraussetzungen ist für den rein quantitativen Selektivvertrieb vorgesehen, dass die Händler nach „festgelegten Kriterien“ ausgewählt werden. Diese Anforderung ist gemäss dem Urteil so zu verstehen, dass der genaue Inhalt der Kriterien lediglich einer Überprüfung zugänglich sein muss. Die Kriterien müssen allerdings weder veröffentlicht werden noch – wie im qualitativen Selektivvertrieb – objektiv gerechtfertigt sein oder einheitlich und unterschiedslos auf alle Bewerber um Aufnahme in das Vertriebssystem angewandt werden.
Rechtliche Ausgangslage
In der Europäischen Union sind grundsätzlich sämtliche spürbaren Wettbewerbsbeschränkungen verboten (vgl. Art. 101 AEUV). In den sog. Gruppenfreistellungsverordnungen (GVO) sind jedoch Voraussetzungen vorgesehen, unter welchen Vereinbarungen zwischen Lieferanten und Händlern von diesem Verbot ausgenommen bzw. freigestellt sind.
Für den Kfz-Vertrieb hat die EU-Kommission im Jahre 2002 eine branchenspezifische Sonderregelung, die sog. Kfz-GVO (Nr. 1400/2002/EG), erlassen. Im Mai 2010 wurde sie durch eine neue Verordnung (Kfz-GVO Nr. 461/2010/EU) ersetzt. Diese sieht jedoch für den Vertrieb von Neuwagen vor, dass die alte Verordnung (Nr. 1400/2002/EG) noch bis Ende Mai 2013 weitergilt. Ab Juni 2013 kommt im Primärmarkt, d.h. beim Vertrieb von Neuwagen, die branchenübergreifende Regelung der sog. Vertikal-GVO (Nr. 330/2010/EU) zur Anwendung; für den Kfz-After-Sales-Markt gelten demgegenüber auch danach noch bestimmte Sondervorschriften (vgl. BR-News vom 25.4.2010).
Der EuGH hatte sich in seinem Urteil noch mit der alten Kfz-GVO (Nr. 1400/2002/EG) auseinanderzusetzen. Diese definiert selektive Vertriebssysteme – im Wesentlichen gleich wie die Vertikal-GVO – und setzt unter anderem voraus, dass sich der Lieferant verpflichtet, die Vertragswaren nur an Händler zu verkaufen, die aufgrund festgelegter Merkmale ausgewählt werden. Anders als die zukünftig im Primärmarkt geltende Vertikal-GVO sind darüber hinaus jedoch unterschiedliche Definitionen und Voraussetzungen für die zwei Arten von selektiven Vertriebssystemen vorgesehen. Der quantitative Selektivvertrieb gilt danach als Vertriebssystem, in dem der „Lieferant Merkmale für die Auswahl der Händler verwendet, durch die deren Zahl unmittelbar begrenzt wird.“ Demgegenüber wird der qualitative Selektivvertrieb als Vertriebssystem definiert, in dem der „Lieferant rein qualitative Merkmale für die Auswahl der Händler anwendet, die wegen der Beschaffenheit der Vertragswaren erforderlich sind, für alle sich um die Aufnahme in das Vertriebssystem bewerbenden Händler einheitlich gelten, in nicht diskriminierender Weise angewandt werden und nicht unmittelbar die Zahl der Händler begrenzen.“
Ausgangssachverhalt
Ausgangspunkt für das Urteil des Gerichtshofs war ein Rechtsstreit zwischen der Händlerin Auto 24 SARL und der Jaguar Land Rover France SAS (JLR), als französischer Importeurin von Land Rover-Neuwagen. Die JLR verwendet für den Vertrieb der Fahrzeuge ein quantitatives Selektivvertriebssystem. Im Rahmen dieses Vertriebssystems hat es JLR im Jahr 2006 abgelehnt, die Auto 24 SARL, welche von 1994 bis 2004 zugelassene Händlerin war, als Vertragshändlerin für Neuwagen am Standort Périgueux aufzunehmen. JLR begründete dies damit, dass sie für ihr Vertriebssystem ein „numerus clausus“ vorgesehen habe. Sie habe 72 mögliche Verträge für zugelassene Händler an 109 Standorten in einer Tabelle festgelegt. Darin sei Périgueux jedoch nicht aufgeführt.
Die Händlerin Auto 24 verlangte in der Folge vor den französischen Gerichten den Ersatz des Schadens, der ihr durch die Nicht-Zulassung zum Vertriebssystem der JLR entstanden sein soll. Die Händlerin machte insbesondere geltend, dass der Lieferant im quantitativen Selektivvertrieb objektive Selektionskriterien verwenden müsse, die dem zu erreichenden Ziel angemessen seien und in nicht diskriminierender Art und Weise angewandt werden müssen. Das höchste französische Gericht, die Cour de Cassation, hatte bei der Beurteilung Zweifel über die Vorgaben aus der Kfz-GVO und ersuchte den EuGH um Klärung der Anforderungen an die Auswahlmerkmale beim quantitativen Selektivvertrieb.
Entscheid des EuGH
In seinem Urteil vom 14. Juni 2011 (C-158/11) weist der EuGH einleitend darauf hin, dass die Nichtbeachtung einer Voraussetzung der Kfz-GVO nicht bereits als solche zu einem Schadenersatzanspruch führe und einen Lieferanten nicht dazu zwingen könne, einen Händler, der sich um Aufnahme in das Vertriebssystem bewirbt, zuzulassen.
In einem nächsten Schritt betont der Gerichtshof, dass die Händler sowohl im qualitativen als auch im quantitativen Selektivvertrieb anhand von festgelegten Merkmalen ausgewählt werden müssen, um von der Freistellung nach der (Nr. 1400/2002/EG) zu profitieren. Diese Voraussetzung ist nach Ansicht des EuGH so zu verstehen, dass es sich um Merkmale handeln muss, deren genauer Inhalt überprüft werden kann. Für die Überprüfung des genauen Inhalts sei es jedoch nicht notwendig, dass die Auswahlmerkmale veröffentlicht werden, stellte der EuGH sogleich klar.
Aus der Definition des quantitativen Selektivvertriebs sowie aus der Systematik der Kfz-GVO (Nr. 1400/2002/EG) geht gemäss EuGH jedoch nicht hervor, dass die vom Lieferanten verwendeten Selektionskriterien nicht nur „festgelegt“, sondern zudem auch objektiv gerechtfertigt sein sowie einheitlich und unterschiedslos auf alle Bewerber angewandt werden müssten. Dies sei nur für den qualitativen Selektivvertrieb erforderlich. Die gegenteilige Interpretation würde nach Ansicht des Gerichtshofs zu einer Vermischung der beiden Arten des Selektivvertriebs führen, für welche jeweils auch weitere unterschiedliche Freistellungsvoraussetzungen (insb. andere Marktanteilsschwellen) gelten. Der Umstand, dass Vertriebssysteme für Neuwagen in der Praxis sehr häufig sowohl qualitative als auch quantitative Merkmale umfassen, sei in dieser Hinsicht unmassgeblich.
Anmerkungen
Da sich das Urteil des EuGH auf die auslaufende Kfz-GVO bezieht, welche andere Voraussetzungen enthält als die künftig geltende Vertikal-GVO, ist nicht restlos klar, welchen Einfluss der Entscheid auf die neue Regelung haben wird. Jedenfalls ist auch für eine Freistellung eines selektiven Vertriebssystems nach der Vertikal-GVO davon auszugehen, dass der genaue Inhalt der angewandten Selektionskriterien einer Überprüfung zugänglich sein muss. Eine Veröffentlichung der Kriterien dürfte auch hier nicht erforderlich sein.
Die weiteren Anforderungen, insbesondere die objektive Rechtfertigung der Kriterien, welche ursprünglich aus der Rechtsprechung des EuGH stammen, sind in der Vertikal-GVO auch für den qualitativen Selektivvertrieb nicht explizit vorgesehen. Dies wird verschiedentlich so interpretiert, dass ein Vertriebssystem auch dann freigestellt sein kann, wenn die Auswahl der Händler auf unverhältnismässigen Kriterien beruht oder die Kriterien diskriminierend angewandt werden. Eine Bestätigung dieser Ansicht dürfte in dem Urteil des EuGH jedenfalls kaum gesehen werden und ist auch nicht zu erwarten. In der Begründung stützt sich der Gerichtshof zudem explizit auf die Systematik der Kfz-GVO (1400/2002/EG) ab, welche – anders als die Vertikal-GVO – für die beiden Arten des Selektivvertriebs noch unterschiedliche Voraussetzungen enthält.
Weitere Informationen:
- Urteil des EuGH vom 14. Juni 2011 (C-158/11)
- Kfz-GVO (1400/2002/EG)
- Kfz-GVO (461/2010/EU)
- Vertikal-GVO (330/2010/EG)
- BR-News: „EU – Zukünftiger wettbewerbsrechtlicher Rahmen des Kfz-Vertriebs“
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Ansprechpartner: Lukas Bühlmann & Michael Schüepp