EuGH zur Rechtmässigkeit einer Videoüberwachung in Wohnanlagen nach EU-Datenschutzrecht


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Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, dass die Videoüberwachung von Gemeinschaftsbereichen eines Wohngebäudes datenschutzrechtlich zulässig sein kann, auch ohne Einwilligung der betroffenen Personen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Videoüberwachung zur Wahrung berechtigter Interessen erforderlich ist. Solche Interessen können gemäss EuGH insbesondere der Schutz von Personen und Eigentum darstellen. Die Videoüberwachung müsse jedoch das mildeste Mittel zur Wahrung der Interessen sein und es müsse im Rahmen einer Einzelfallbeurteilung festgestellt werden, dass die entgegenstehenden Interessen der von der Überwachung betroffenen Personen nicht überwiegen. Das Urteil verdeutlicht, dass diese Anforderungen relativ hoch und mit Unsicherheiten verbunden sind.

Klage auf Entfernung von drei Videoüberwachungskameras in einer Wohnanlage

Auslöser des vorliegenden Urteils war die Klage eines Bewohners einer Eigentumswohnung vor dem Landgericht Bukarest. Darin verlangte er von der Eigentümergemeinschaft der Wohnanlage die Beseitigung der drei im Gemeinschaftsbereich installierten Videoüberwachungskameras. Im Jahr 2016 hatte die Eigentümerversammlung beschlossen, ein Videoüberwachungssystem zu installieren, um möglichst effizient zu kontrollieren, wer in der Wohnanlage ein- und ausgehe. Denn der Aufzug sei mehrmals verwüstet worden und mehrere Wohnungen sowie die Gemeinschaftsbereiche seien Ziel von Einbrüchen und Diebstählen geworden, so die beklagte Eigentümergemeinschaft. Die erste Kamera war auf die Fassade des Gebäudes gerichtet, während die zweite und die dritte Kamera im Foyer des Erdgeschosses und im Aufzug des Gebäudes installiert wurden.

Der Kläger sah in der Einrichtung des Videoüberwachungssystems demgegenüber eine Verletzung seines Rechts auf Achtung des Privatlebens und einen Verstoss gegen die datenschutzrechtlichen Vorschriften der EU und von Rumänien. Die beklagte Eigentümergemeinschaft entgegnete darauf, sie habe den Schritt, Kameras zu installieren, in gutem Glauben, auf transparente Weise und mit guten Absichten unternommen. Sie habe den Bereich des Wohngebäudes so effizient wie möglich schützen wollen. Andere Massnahmen, die sie zuvor ergriffen habe, konnten die Einbrüche und Diebstähle nicht verhindern. Dazu gehörte die Einrichtung eines Zutrittssystems zum Gebäude mit Gegensprechanlage und Magnetkarte.

Zur Klärung der datenschutzrechtlichen Vorgaben des EU-Rechts sistierte das Landgericht Bukarest das Verfahren und legte dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor.

Anwendung der EU-Datenschutzrichtlinie – aber gleiche Kriterien wie unter der DSGVO

In seinem Urteil vom 11. Dezember 2019 (C-708/18) äusserte sich der EuGH nur zur EU-Datenschutzrichtlinie (Richtlinie 95/46/EG). Diese wurde bekanntlich mit Wirkung ab dem 25. Mai 2018 durch die EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ersetzt. Da sich der vorliegende Sachverhalt jedoch noch vor diesem Datum abspielte, gelangten die Vorschriften der DSGVO noch nicht zur Anwendung. Die für die Beurteilung des vorliegenden Falls massgeblichen Bestimmungen der Datenschutzrichtlinie sind jedoch weitestgehend identisch mit denjenigen der DSGVO. Insofern überrascht es nicht, dass sich die vom EuGH mit dem vorliegenden Urteil gesetzten Leitplanken im Wesentlichen mit denjenigen decken, die der Europäische Datenschutzausschuss kürzlich in seinen Leitlinien zur Videoüberwachung unter der DSGVO festgehalten hat (siehe dazu MLL-News vom 10.8.2019).

Insofern ist die Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen im EU-Datenschutzrecht grundsätzlich unzulässig, ausser bei Vorliegen eines Erlaubnistatbestands (wie z.B. die Einwilligung der betroffenen Person) (vgl. Art. 7 der Datenschutzrichtlinie und Art. 6 der DSGVO). Als zentraler Erlaubnistatbestand bei der Videoüberwachung stand die «Wahrung eines berechtigten Interesses» auch im vorliegenden Urteil im Zentrum.

Voraussetzungen des «berechtigten Interesses»

Einleitend betonte der EuGH insofern, dass eine Videoüberwachung auch ohne Einwilligung der betroffenen Personen datenschutzrechtlich zulässig sein kann, sofern die Voraussetzungen eines anderen Erlaubnistatbestands erfüllt seien. In Frage komme dabei die «Wahrung berechtigter Interessen». Eine Datenverarbeitung gestützt auf diesen Erlaubnistatbestand ist gemäss EuGH dann rechtmässig, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt werden:

  • Der für die Datenverarbeitung Verantwortliche nimmt ein berechtigtes Interesse 
  • Die Verarbeitung der personenbezogenen Daten muss zur Verwirklichung des berechtigten Interesses erforderlich 
  • Es dürfen keine Grundrechte und Grundfreiheiten der vom Datenschutz betroffenen Person das wahrgenommene Interesse überwiegen (Interessenabwägung).

Schutz von Eigentum und Gesundheit der Miteigentümer als berechtigte Interessen

Im vorliegenden Fall stufte der EuGH das Ziel, das Eigentum, die Gesundheit und das Leben der Miteigentümer einer Wohnanlage zu schützen, als berechtigtes Interesse im der Datenschutzrichtlinie ein. Das berechtigte Interesse müsse jedoch bereits zum Zeitpunkt der Datenverarbeitung entstanden und vorhanden sein und dürfe nicht bloss hypothetisch sein. Allerdings werde nicht zwingend verlangt, dass bereits Vorfälle stattgefunden haben, welche die Sicherheit des Eigentums und der Personen beeinträchtigt haben.

In einem Fall wie dem vorliegenden, wo es in einer Wohnsiedlung bereits vor dem Anbringen eines Videoüberwachungssystems zu Einbrüchen, Vandalismus und Diebstahl gekommen sei, «scheint» gemäss EuGH die erste Voraussetzung eines berechtigten Interesses aber jedenfalls erfüllt zu sein.

Strenge Anforderungen an die Erforderlichkeit der Videoüberwachung

Die zweite Voraussetzung der Erforderlichkeit bzw. der Verhältnismässigkeit verlange vom Gericht die Überprüfung, ob das berechtigte Interesse nicht mit anderen milderen Mitteln «vernünftigerweise ebenso wirksam» erreicht werden kann. Diese Voraussetzung muss gemäss EuGH ferner zusammen mit dem Grundsatz der Datenminimierung geprüft werden. Dieser impliziere, dass der für die Verarbeitung Verantwortliche etwa prüfen müsse, ob es ausreiche, wenn die Videoüberwachung nur in der Nacht oder ausserhalb der normalen Arbeitszeit in Betrieb sei. Des Weiteren müsse er prüfen, ob er jene Bilder, die in Bereichen aufgezeichnet würden, in denen die Überwachung nicht erforderlich sei, blockieren oder unscharf einstellen müsse.

Laut EuGH ergebe sich aus den Akten des vorliegenden Falls, dass den Anforderungen an die Verhältnismässigkeit «offenbar» entsprochen wurde. Es stehe nämlich fest, dass alternative Massnahmen in Form eines am Gebäudeeingang installierten Sicherungssystems mit Gegensprechanlage und Magnetkarte ursprünglich ergriffen wurden, sich aber als unzureichend erwiesen hätten. Ausserdem beschränke sich die fragliche Videoüberwachungsvorrichtung auf die Gemeinschaftsbereiche des im Miteigentum stehenden Gebäudes und auf die Zugangswege zu ihm. Allerdings seien bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit auch die konkreten Modalitäten der Installierung und des Betriebs der Vorrichtung miteinzubeziehen.

Berücksichtigung konkreter Umstände und Einzelfallabwägung notwendig

Die Abwägung zwischen den Interessen der von der Datenverarbeitung betroffenen Personen und jenen des für die Datenverarbeitung Verantwortlichen stellt die dritte Voraussetzung dar. Die einander gegenüberstehenden Rechte und Interessen seien anhand der konkreten Umstände des betreffenden Einzelfalls gegeneinander abzuwägen. Dabei sei die Bedeutung des als Grundrecht geschützten Rechts auf Achtung der Privatsphäre zu berücksichtigen.

Die Schwere der Beeinträchtigung der Rechte und Freiheiten der betroffenen Person stelle einen wesentlichen Gesichtspunkt der Einzelfallabwägung dar. In die Abwägung miteinzubeziehen seien deshalb insbesondere die Art und Sensibilität der personenbezogenen Daten und die Modalitäten der Verarbeitung wie beispielsweise der Personenkreis, welcher Zugang zu den Daten habe. Ebenfalls relevant seien die berechtigten Erwartungen der betroffenen Person, dass ihre personenbezogenen Daten nicht verarbeitet werden, wenn diese Person unter den konkreten Umständen vernünftigerweise nicht mit einer Weiterverarbeitung der Daten rechnen kann.

All diese vorgenannten Gesichtspunkte müssten gegen das wahrgenommene berechtigte Interesse abgewogen werden, welches das Eigentum und die Gesundheit der Miteigentümer schützen solle.

Fazit und Anmerkungen

Wie diese Interessenabwägung im vorliegenden Fall ausfällt und ob letztlich die Voraussetzungen des berechtigten Interesses bejaht werden können, muss nun das Landgericht Bukarest entscheiden. Der EuGH hat jedoch zumindest in Bezug auf die ersten beiden Voraussetzungen durchblicken lassen, dass diese seines Erachtens gegeben sein dürften. In Bezug auf die dritte Voraussetzung, der Interessenabwägung, bringt das Urteil kaum neue Erkenntnisse. Fest steht aber, dass die im Einzelfall zu erfolgende Interessenabwägung stets mit erheblichen Unsicherheiten verbunden ist und letztlich auch dokumentiert werden sollte.

Für die Praxis veranschaulicht das Urteil des EuGH jedenfalls einmal mehr, dass die datenschutzrechtlichen Anforderungen an Videoüberwachungssysteme relativ hoch sind. Zahlreiche Fragen bleiben aber weiterhin offen. So ist bspw. zu bedauern, dass im Urteil nicht näher spezifiziert wird, wann konkret ein berechtigtes Interesse bestehen kann, sofern es noch zu keinen Vorfällen wie Diebstählen oder Sachbeschädigungen gekommen ist. Denn im vorliegenden Fall haben solche Vorfälle offenbar unbestritten bereits stattgefunden. Wenig Klarheit verschafft das Urteil auch in der weiteren wichtigen Frage, was unter den «berechtigten Erwartungen» der betroffenen Personen zu verstehen ist, also im vorliegenden Fall, inwiefern in der jeweiligen Situation eine Videoüberwachung zu erwarten ist (vgl. dazu MLL-News vom 10.8.2019).

Das Urteil des EuGH sowie die weitere Entwicklung der Praxis im EU-Recht sind schliesslich auch aus Schweizer Sicht relevant. Denn es zum einen kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Videoüberwachung von Schweizer Unternehmen, die ihre Angebote (auch) auf Kunden in der EU ausrichten, der DSGVO unterstellt ist. Der Umstand, dass die Überwachung in der Schweiz erfolgt, ist für diese Frage jedenfalls nicht entscheidend. Zum anderen sind sowohl im noch geltenden Schweizer Datenschutzgesetz (DSG) (vgl. auch BGE 142 III 263) als auch im Entwurf zu dessen Totalrevision vergleichbare Kriterien massgeblich. Bei der Implementierung von Videoüberwachungssystemen sollten deshalb auch Schweizer Unternehmen, die Praxis zum EU-Datenschutzrechts miteinbeziehen.

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