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Das revidierte Versicherungsaufsichtsgesetz und die revidierte Aufsichtsverordnung treten per den 1. Januar 2024 in Kraft. Neu wird in Bezug auf die Anlagetätigkeit der Grundsatz der unternehmerischen Vorsicht (Prudent Person Principle) eingeführt. Ferner können Versicherer, die ausschliesslich die Versicherung professioneller Versicherungsnehmer betreiben, von der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht FINMA (FINMA) auf Antrag von gewissen Aufsichtspflichten befreit werden. Am 31. Oktober 2023 hat die FINMA zu diesen beiden Themen die Aufsichtsmitteilung 06/2023 publiziert. Dieser Beitrag befasst sich mit dem Prudent Person Principle.
Ausgangslage
Das gegenwärtige Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) und die gegenwärtige Aufsichtsverordnung (AVO) sehen keine besonderen Regeln für die Anlagetätigkeit von Versicherern schlechthin vor. Allerdings gelten besondere Regeln in Bezug auf das gebundene Vermögen: So sieht das VAG vor, dass der Bundesrat Vorschriften über die Bestellung, Belegenheit, Deckung, Veränderungen und Kontrolle des gebundenen Vermögens erlässt (Art. 20 VAG). Vermögenswerte, die dem gebundenen Vermögen zugewiesen werden dürfen, sind in der AVO (Art. 79 Abs. 1 AVO) und dem Rundschreiben 2016/5 Anlagerichtlinien – Versicherer definiert. Ab dem 1. Januar 2024 müssen die Versicherer ihre Anlagetätigkeit neu nach dem Grundsatz der unternehmerischen Vorsicht (Prudent Person Principle) (PPP) ausrichten (Art. 69 Abs. 1 revidierte Aufsichtsverordnung (revAVO)). Ferner orientiert sich der Bundesrat bei den Vorschriften über das gebundene Vermögen am PPP (Art. 20 revidiertes Versicherungsaufsichtsgesetz (revVAG); Art. 76 Abs. 1 revAVO). Die ausführlichen Anlagevorschriften (d.h. insbesondere das Rundschreiben 2016/5) werden abgeschafft. Im Gegenzug soll aber die sich derzeit im Entwurfsstadion befindliche Versicherungsaufsichtsverordnung FINMA (revAVO-FINMA) deutlich ausgebaut werden und detaillierte Regeln zu Aspekten des gebundenen Vermögens vorsehen (vgl. Art. 60 ff. revAVO-FINMA).
Neues Anlageregime
Versicherer müssen ihre Vermögenswerte nach dem PPP anlegen. Der Gesetz- und Verordnungsgeber möchte damit die Vorgabe der Insurance Core Principles umsetzen, welche vorsehen, dass Versicherer unter Berücksichtigung der Risiken, denen sie ausgesetzt sind, angemessene Anlagen tätigen (vgl. Ziff. 15 Insurance Core Principles). Die Versicherer dürfen insbesondere ausschliesslich in Vermögenswerte und Instrumente investieren, deren Risiken sie hinreichend beurteilen, bewerten, überwachen, steuern und in ihre Berichterstattung einbeziehen können (Art. 69a Abs. 1 revAVO). Eine Neuerung stellt das PPP im internationalen Vergleich nicht dar. Das Prinzip gilt für Versicherer, die in den Staaten der Europäischen Union lizenziert sind, seit der Einführung der Solvency-II-Rahmenrichtlinie. Allerdings ist das PPP stark auslegungsbedürftig und schafft damit Unsicherheit. Wenig Abhilfe schafft der Katalog der Anforderungen, welche im Hinblick auf das PPP einzuhalten sind (vgl. Art. 69a Abs. 1 und Abs. 2 revAVO). Die Praxis dazu muss sich in der Schweiz erst noch entwickeln.
Die Bestellung des gebundenen Vermögens folgt neu zwingendermassen dem PPP (Art. 76 Abs. 1 revAVO). Zusätzlich besteht weiterhin ein Katalog an Kategorien von Vermögenswerten, die dem gebundenen Vermögen zugewiesen werden dürfen. Der Versicherer kann diesbezüglich wählen, ob er sich der Standardliste gemäss Art. 79 Abs. 2 revAVO unterstellen oder eine individuell ausgestaltete Liste von Vermögenswerten definieren will (individuelle Anlageliste). Die individuelle Anlageliste muss von der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht FINMA (FINMA) genehmigt werden (Art. 79 Abs. 1 revAVO). Der Antrag auf Genehmigung der individuellen Anlageliste kann erst ab dem 1. Januar 2024 gestellt werden. Zu beachten sind diesbezüglich die dreijährigen Übergangsfristen (Art. 216c Abs. 3 revAVO). Wird der Standardliste gefolgt, bedarf es keiner Genehmigung der FINMA in Bezug auf die Zuweisung von in Art. 79 Abs. 2 revAVO genannten Werten ins gebundene Vermögen. Schliesslich reduziert sich beim Befolgen der Standardliste der Rapportierungs- und Prüfaufwand durch die Prüfgesellschaften und/oder die FINMA.
Die Aufsichtsmitteilung 06/2023 nimmt leider, was von der Industrie durchaus begrüsst worden wäre, nicht näher zum PPP Stellung. Die FINMA begenügt sich denn auch damit, in genereller Weise auf das neue Anlageregime aufmerksam zu machen und darauf hinzuweisen, dass die Einhaltung der Anlagevorschriften, namentlich in Bezug auf das gebundene Vermögen, jährlich oder bei speziellen Vorkommnissen kontrolliert wird. Ferner wird in Aussicht gestellt, dass die FINMA vertiefte Überprüfungen vornehmen wird.
Was ist zu tun?
Zwecks Umsetzung des neuen Anlageregimes sollten die Versicherer das Folgende tun:
- Überprüfung und Anpassung der Anlagestrategie und -grundsätze im Lichte des PPP
- Vornahme von Desinvestitionen, sofern diese nicht mehr im Einklang mit der Anlagestrategie und den Anlagegrundsätzen stehen (Achtung, die Übergangsfristen nach Art. 216c Abs. 3 revAVO gelten bloss für Werte, die dem gebundenen Vermögen zugewiesen wurden bzw. werden)
- Sicherstellung der Dokumentation der Anlagestrategie und -grundsätze
- Definition eines Rahmenwerks (Framework) zwecks Überwachung der Einhaltung der Anlagestrategie und -grundsätze
- Überprüfung und Entscheidung, ob der Standardliste für die Zuweisung von Werten in das gebundene Vermögen gefolgt oder eine individuelle Anlageliste ausgearbeitet und der FINMA zur Genehmigung vorgelegt werden soll
- Sicherstellung, dass Werte, die nicht unter Art. 79 Abs. 2 revAVO fallen, bis am 31. Dezember 2026 nur dann dem gebundenen Vermögen zugewiesen bleiben, wenn diese Werte die Anforderungen von Art. 76 revAVO erfüllen, der Versicherer bereits vor dem 1. Januar 2024 in vergleichbarem Umfang zulässigerweise in Werte dieser Art investiert hat oder falls diese Werte nach dem 1. Januar 2024 dem gebundenen Vermögen zugewiesen werden, ein entsprechender Antrag nach Art. 79 Abs. 1 revAVO gestellt und weder zurückgezogen noch von der FINMA abgelehnt wurde (vgl. Art. 216c Abs. 3 revAVO)
- Überprüfung dass bei Anwendung der Standardliste Investitionen in neuartige Fonds, die qualifizierten Anlegern vorbehalten sind, und dem gebundenen Vermögen zugewiesen wurden bzw. werden sollen, nur dann erfolgen, wenn diese als für Versicherer geeignet gelten, oder, falls dies nicht der Fall sein sollte, eine Desinvestition vorgenommen wird
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Weitere Informationen
Weitere Informationen zum revidierten Versicherungsaufsichtsrecht im Allgemeinen und dem PPP im Besonderen finden Sie via die folgenden Links:
- Botschaft vom 21. Oktober 2020 zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG), BBL 2020 8967
- Schlussabstimmungstext für das Bundesgesetz betreffend die Aufsicht über Versicherungsunternehmen (Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG), BBl 2022 704
- Verordnung über die Beaufsichtigung von privaten Versicherungsunternehmen (Aufsichtsverordnung, AVO)
- Erläuterungen zur Änderung der Aufsichtsverordnung vom 2. Juni 2023
- Ergebnisbericht des Vernehmlassungsverfahrens zur Änderung der Aufsichtsverordnung vom 2. Juni 2023
- FINMA-Aufsichtsmitteilung 06/2023 vom 31. Oktober 2023
- Insurance Core Principles and Common Framework for the Supervision of Internationally Active Insurance Groups, Updated November 2019
- Häufige Fragen zur Anlagetätigkeit und zum gebundenen Vermögen im Hinblick auf das revidierte VAG bzw. die revidierte AVO
Bei Fragen zum revidierten Versicherungsaufsichtsrecht und dem PPP steht Ihnen die Industriegruppe Versicherungen von MLL Legal gerne zur Verfügung.
Dieser Beitrag stellt keine Rechtsberatung dar. Er gibt lediglich das gegenwärtige Verständnis des Autors in Bezug auf die diskutierte Rechtsfrage kund, ohne Berücksichtigung individueller Umstände. Jegliche Haftung für die Inhalte dieses Beitrags sind ausgeschlossen. Zudem trifft MLL Legal keine Verpflichtung, die Leser dieses Beitrags über neue Rechtsprechung, Praxisänderungen oder anderweitige Änderungen zu informieren.