Ihr Kontakt
1. Übersicht
1.1 Neue Regeln in der EU
Die EU-Kommission hat mit Wirkung auf den 1. Juni 2010 eine neue Gruppenfreistellungsverordnung für sogenannte «vertikale Vereinbarungen» zwischen Unternehmen unterschiedlicher Marktstufen, namentlich somit für Vertriebs- und Liefervereinbarungen zwischen Herstellern bzw. Anbietern (Vertriebsgeber) und deren Händlern bzw. Abnehmern (Vertriebsnehmer) erlassen (VO EU Nr. 330/2010; VertGVO). Diese löst die ursprüngliche Verordnung aus dem Jahr 1999 (VO EU Nr. 2790/1999) ab bzw. führt diese mit überarbeiteten Regeln fort. Die neuen Bestimmungen gelten bis 2022. Für bereits vor dem 1. Juni 2010 in Kraft befindliche Vereinbarungen gilt eine Übergangsfrist von einem Jahr. Gleichzeitig mit der VertGVO hat die EU-Kommission die Leitlinien für vertikale Beschränkungen (Leitlinien) überarbeitet und angepasst. Die Leitlinien erläutern und veranschaulichen mit Beispielen die in der VertGVO aufgestellten Regeln. Die beiden genannten Dokumente können hier abgerufen werden.
Schliesslich hat die EU-Kommission zeitgleich die Wettbewerbsvorschriften für Vereinbarungen zwischen Kfz-Herstellern und deren zugelassenen Händlern, Werkstätten und Ersatzteilanbietern und die entsprechenden Leitlinien angepasst und eine entsprechende neue Gruppenfreistellungsvereinbarung erlassen (VO EU Nr. 461/2010; Kfz-GVO). In Bezug auf die Märkte für Reparatur- und Wartungsdienstleistungen sind die neuen Regeln per 1. Juni 2010 in Kraft getreten. Diese gelten bis 2023. Hinsichtlich des Bezugs und des Verkaufs oder Weiterverkaufs neuer Kraftfahrzeuge werden ab dem 1. Juni 2013 die Regeln der VertGVO zur Anwendung kommen. Die beiden genannten Dokumente können hier abgerufen werden.
1.2 Neue Regeln in der Schweiz
Mit Beschluss vom 28. Juni 2010 hat die schweizerische Wettbewerbskommission (Weko) ihre Bekanntmachung über die wettbewerbsrechtliche Behandlung vertikaler Abreden aus dem Jahr 2007 überarbeitet und angepasst (VertBM).
Vor Kurzem hat die Weko auch überarbeitete Erläuterungen zur Bekanntmachung über die wettbewerbsrechtliche Behandlung von vertikalen Abreden im Kraftfahrzeughandel vom 21. Oktober 2002 (Kfz-BM) veröffentlicht. Diesen Erläuterungen ist zu entnehmen, dass die Weko entschieden hat, die Kfz-BM zunächst unverändert beizubehalten und erst im Hinblick auf die auf europäischer Ebene in Kraft tretenden Änderungen ab Juni 2013 – unter Einbindung der entsprechenden Marktteilnehmer – darüber zu befinden, wie die Kfz-BM weiterzuführen bzw. anzupassen ist. Die Weko hat in den ergänzten Erläuterungen zur Kfz-BM jedoch klar gemacht, dass diese hinsichtlich der Anwendung der Kfz-BM auf eine grösstmögliche Übereinstimmung mit den in der EU geltenden neuen Regeln und der durch die EU-Kommission entwickelten Praxis abzielt.
Sämtliche der genannten Dokumente können hier abgerufen werden.
2. Wesentliche Neuerungen in der EU
2.1 Wesentliche Neuerungen der VertGVO
Wesentliche Neuerungen bzw. Klärungen erfolgten in dreierlei Hinsicht. Erstens hinsichtlich der relevanten Marktanteile, um vom Anwendungsbereich der VertGVO erfasst zu sein, zweitens bezüglich des Verhältnisses von Online-Vertrieb und Kernbeschränkungen. Drittens führt die VertGVO die Freistellungsfähigkeit vertikaler Preisbindungen bzw. den sog. «effects based approach» bei der Auslegung und Anwendung der in der VertGVO festgelegten Grundsätze und Regeln näher aus.
2.1.1 Gruppenfreistellung – Anwendungsbereich
Damit Unternehmen den Rechtsvorteil der VertGVO für sich in Anspruch nehmen können, darf der Marktanteil am relevanten Markt eines jeden an der Abrede beteiligten Unternehmens die Schwelle von 30% nicht überschreiten. Ausserdem dürfen keine Kernbeschränkungen des Wettbewerbs enthalten sein, also insbesondere Abreden über Weiterverkaufspreise (sog. Preisbindung zweiter Hand) und Einschränkungen für den Handel im europäischen Binnenmarkt (sog. absoluter Gebietsschutz).
Neu ist für die Freistellung vom Kartellverbot gemäss Art. 101 Abs. 1 AEUV (bis auf eine redaktionelle Anpassung entspricht dieser dem ursprünglichen Art. 81 Abs. 1 EGV) nicht mehr bloss der Marktanteil des Vertriebsgebers am relevanten Markt massgebend. Die Marktanteile sowohl des Vertriebsgebers als auch des Vertriebsnehmers dürfen neu jeweils 30% nicht überschreiten. Die EU-Kommission wollte auf diese Weise der Erkenntnis Rechnung tragen, dass auch Abnehmer über Marktmacht mit potenziell nachteiligen Auswirkungen auf den Wettbewerb verfügen können. Die neue Regelung soll daher Unternehmen zugute kommen, die ansonsten aufgrund nachfragemächtiger Vertriebsnehmer allenfalls vom Vertriebsmarkt ausgeschlossen werden könnten. Zu denken ist hier namentlich, wenn nicht gar ausschliesslich, an den Detailhandelsmarkt bzw. an Lebensmittel-Supermärkte. Für sämtliche Unternehmen in allen Branchen ergibt sich damit neu aber eine weitere Hürde. In Zukunft sind nicht bloss – wie bisher – die schwierigen Fragen bezüglich Abgrenzung der sachlichen und räumlichen Märkte und der Marktanteile des Vertriebsgebers auf dem relevanten Markt zu beantworten, sondern auch die Marktanteile der Gegenseite zu bestimmen.
Werden die erwähnten Marktanteilsschwellen überschritten, ist individuell zu prüfen, ob eine Vereinbarung Klauseln enthält, die den Wettbewerb beschränkt. Ist dies der Fall, so ist zu prüfen, ob diese Klausel allenfalls gerechtfertigt werden kann. Hierfür sind insbesondere ökonomische Effizienzgründe massgebend.
2.1.2 Online-Vertrieb und Kernbeschränkungen
Als zweite für die Praxis bedeutende Neuerung hervorzuheben sind die Erläuterungen in den Leitlinien zum Verhältnis Online-Vertrieb und Kernbeschränkungen, namentlich die Erläuterungen bezüglich Restriktionen des Online-Vertriebs und deren Qualifikation als unzulässige Verbote sog. passiver Verkäufe, d.h. der Erledigung unaufgeforderter Bestellungen einzelner Kunden.
Es ist das erklärte Ziel der EU-Kommission, dem Verbraucher in konsequenter Umsetzung des Binnenmarktes zu ermöglichen, die gewünschten Waren und Dienstleistungen an jedem beliebigen Ort in der EU zum günstigsten Preis kaufen zu können. Die neuen Bestimmungen geben den Vertriebsnehmern konkrete Anreize für den Ausbau ihres Online-Geschäfts und ermöglichen diesen damit, einen grösseren Kundenkreis innerhalb der EU zu erreichen und damit auch von diesem erreicht zu werden. Demgemäss muss es jedem Händler prinzipiell erlaubt sein, das Internet für den Verkauf von Produkten zu nutzen.
Selbstverständlich gilt nach wie vor der Grundsatz, dass die Unternehmen innerhalb der Regeln der VertGVO selbst entscheiden, wie ihre Produkte vertrieben werden. Im Rahmen von Alleinvertriebssystemen dürfen nach der VertGVO sog. aktive Verkäufe in vertraglich nicht zugewiesene Gebiete unterbunden werden. Hingegen ist eine Einschränkung solcher Aktivverkäufe für Händler in selektiven Vertriebssystemen nicht zulässig. Unter aktivem Verkauf wird hierbei die aktive Ansprache einzelner Kunden verstanden und zwar sowohl offline wie auch online. Darunter fallen Direktwerbung, einschliesslich Massen-E-Mails oder persönlicher Besuche. Erfasst werden ferner die aktive Ansprache einer bestimmten Kundengruppe resp. von Kunden in einem bestimmten Gebiet mittels Werbung in den Medien, über das Internet oder mittels anderer verkaufsfördernder Massnahmen, die sich gezielt an die betreffende Kundengruppe oder an die Kunden in dem betreffenden Gebiet richten. Angewendet auf den Vertrieb über das Internet sind etwa gebietsspezifische Banner auf Webseiten Dritter als eine Form des aktiven Verkaufs in demjenigen Gebiet zu qualifizieren, in welchem die Banner erscheinen. Ferner gelten Zahlungen für eine Suchmaschine oder an einen Online-Werbeanbieter, damit Werbung gezielt an Nutzer in einem bestimmten Gebiet erscheint, als aktiver Verkauf in dieses Gebiet.
Bezüglich Online-Vertrieb wird – wie dies bis anhin bereits der Fall war – das Unterhalten einer eigenen Webseite durch den Vertriebsnehmer in der Regel als Form des passiven Verkaufs angesehen. Der Umstand, dass eine Webseite Wirkungen auch über das vertraglich zugewiesene Gebiet oder die vertraglich zugewiesene Kundengruppe des Händlers hinaus entfalten kann, wird von der EU-Kommission als hinzunehmende Folge der technischen Entwicklung angesehen, d.h. des einfachen Internetzugangs von jedem beliebigen Ort aus. Das Aufrufen der Webseite eines Vertriebsnehmers und die Kontaktaufnahme mit diesem durch einen Kunden, aus der sich der Verkauf einschliesslich Bereitstellung eines Produkts ergibt, gilt als passiver Verkauf und darf folglich nicht eingeschränkt werden. Gleiches gilt, wenn ein Kunde sich (automatisch) vom Vertriebsnehmer informieren lässt und dies zu einem Verkauf führt. Für sich genommen ändern die auf der Webseite oder in der Korrespondenz wählbaren Sprachen nichts am passiven Charakter des Verkaufs.
Aufgrund der vorgenannten Grundsätze liegen daher unzulässige Einschränkungen von Passivverkäufen über das Internet vor, wenn mit technischen Mitteln eine Webseite nur beschränkt eingesehen werden kann, d.h. nur von Kunden des zugewiesenen Vertriebsgebietes oder bei automatischer Umleitung auf die Webseite des Herstellers resp. anderer Vertriebsnehmer. Ferner gilt dies für Fälle, bei denen eine Internet-Transaktion automatisch unterbrochen wird, beispielsweise wenn die Kreditkarte eine Adresse erkennen lässt, die nicht im entsprechenden Vertriebsgebiet des Vertriebsnehmers liegt oder der über das Internet getätigte Teil der Gesamtverkäufe eines Vertriebsnehmers begrenzt wird.
Die vorgenannten Grundsätze bedeuten jedoch nicht, dass ein Vertriebsnehmer bezüglich seines Onlinehandels frei von Einschränkungen sein muss. Diesbezüglich dürfen auch Einschränkungen vorgesehen werden. Um einen effizienten Betrieb der jeweiligen physischen Verkaufspunkte zu gewährleisten, ist ein Vertriebsgeber etwa berechtigt, vom Vertriebsnehmer zu verlangen, die Produkte mindestens in einem nach Wert oder Menge bestimmten absoluten Umfang offline zu verkaufen, ohne jedoch die Online-Verkäufe des Händlers, auch nicht indirekt, zu beschränken. Als zulässig qualifiziert die VertGVO in diesem Zusammenhang auch die Verpflichtung des Vertriebsnehmers, nebst dem Onlineshop über einen oder mehrere physische Verkaufspunkte oder Ausstellungsräume zu verfügen. Die spätere Änderung oder Aufnahme einer solchen Pflicht des Vertriebsnehmers ist nach der VertGVO nur dann nicht möglich, wenn bezweckt werden soll, den Onlinevertrieb der Vertriebsnehmer direkt oder indirekt zu beschränken. Die Weigerung, ausschliesslich über das Internet verkaufende Vertriebsnehmer zu beliefern, ist somit grundsätzlich zulässig.
Hervorzuheben ist ferner, dass ein Vertriebsgeber sicherstellen darf, dass das Online-Geschäft des Vertriebsnehmers mit dem Vertriebsmodell im Einklang steht. Ein Vertriebsgeber kann somit Qualitätsanforderungen an die Verwendung des Internets zum Weiterverkauf seiner Vertragsprodukte an Geschäfte, Ausstellungsräume, den Versandhandel oder in gewissem Ausmass an Werbe- und Verkaufsförderungsmassnahmen im Allgemeinen stellen. Gemäss VertGVO soll dies zudem nicht ausschliesslich für den selektiven Vertrieb gelten. Es ist jedoch davon auszugehen, dass derartige Einschränkungen für den Selektivvertrieb wohl von besonderer Bedeutung sein werden. In praktischer Hinsicht dürften die vom Vertriebsgeber an den Online-Handel gestellten (Qualitäts-)Anforderungen auch einfacher zu rechtfertigen sein, wenn diese mit bereits existierenden Selektionskriterien für den Offline-Vertrieb kohärent sind. Stellt ein Vertriebsgeber für den Online-Handel massgeblich höhere (Qualitäts-)Anforderungen als für den Offline-Handel, ist zu befürchten, dass die Wettbewerbsbehörden darin wohl ein Indiz sehen, Online-Verkäufe eines Händlers indirekt zu beschränken.
Zulässig ist es ferner eine Pflicht des Vertriebsnehmers zu statuieren, dass dieser Plattformen Dritter für den Onlinevertrieb der Vertragsprodukte nur nutzen darf, sofern diese im Einklang mit den Normen und Voraussetzungen stehen, die zwischen dem Vertriebsgeber und den Vertriebsnehmern für die Nutzung des Internets vereinbart wurden. Die VertGVO führt diesbezüglich aus, der Vertriebsgeber könne verlangen, dass Kunden die Webseite des Vertriebsnehmers nicht über eine Webseite aufrufen können, die den Namen oder das Logo dieser Plattform trägt, wenn sich die Webseite des Händlers auf der Plattform eines Dritten befindet. Es ist davon auszugehen, dass damit namentlich der Vertrieb von Produkten auf Verkaufsplattformen wie etwa Ebay oder Ricardo eingeschränkt werden kann.
Zu bedauern ist, dass sich die EU-Kommission in den Leitlinien nicht dazu äussert, ob und in welchen Konstellationen es zulässig bzw. gerechtfertigt sein kann, den Vertrieb von Produkten über einen Online-Shop gänzlich zu verbieten. Zu denken ist hierbei etwa an die Luxusuhrenindustrie, welche mit einer solchen Massnahme wirksam dem Schutz vor Fälschungen entgegenwirken kann bzw. könnte. Soweit ersichtlich ist ein Vorabentscheidungsersuchen des Cour d’Appel Paris an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), das diese Frage zum Gegenstand hat, noch nicht entschieden.
2.1.3 Beschränkungen der Weiterverkaufspreise – effects based approach
Die VertGVO behandelt die Preisbindung der zweiten Hand grundsätzlich als eine Kernbeschränkung. Es wird vermutet, dass eine solche Vertikalabrede den Wettbewerb einschränkt und somit unzulässig ist. Ferner wird vermutet, dass eine derartige Abrede nicht gerechtfertigt werden kann. Gemäss den Leitlinien kann im Einzelfall die Einrede der Effizienz erhoben werden, wobei substantiiert darzulegen ist, dass sich die zu erwartenden Effizienzgewinne aufgrund der Preisbindung zweiter Hand ergeben und sämtliche Voraussetzungen der Effizienzrechtfertigung gegeben sind. Die Kommission hat daraufhin die negativen Auswirkungen der Abrede im konkreten Einzelfall zu prüfen und festzustellen, ob die Rechtfertigung gelingt. Insbesondere in oligopolistischen Märkten dürfte eine Rechtfertigung eher nicht möglich sein. Im Rahmen von speziellen Kampagnen zur Lancierung neuer Produkte dürfte eine Rechtfertigung hingegen schon eher in Frage kommen.
2.2 Wesentliche Neuerungen der Kfz-GVO
Bezüglich des Vertriebs von Neufahrzeugen erfolgen vorerst keine wesentlichen Neuerungen. Für den Vertrieb von Neufahrzeugen finden die in der bisherigen KFZ-GVO festgesetzten Regeln bis zum Ablauf der Übergangsfrist am 31. Mai 2013 weiterhin Anwendung. Nach Ablauf dieser Frist gelten für diesen Markt die Regeln der VertGVO, sofern die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind. Dies erfolgt aufgrund der Erkenntnis der EU-Kommission, dass beim Vertrieb neuer Kraftfahrzeuge offenbar keine erheblichen Beeinträchtigungen des Wettbewerbs bestehen, die diesen Sektor von anderen Wirtschaftssektoren unterscheidet und somit die Anwendung anderer oder strengerer Regeln erforderlich machen würde.
Bezüglich der Bestimmungen über die Instandsetzungs- und Wartungsdienstleistungen sowie den Vertrieb von Kfz-Ersatzteilen gelten die per 1. Juni 2010 in Kraft getretenen spezifischen Bestimmungen der neuen Kfz-GVO. Diese neuen Regeln sollen den Wettbewerb auf dem Markt für Instandsetzungs- und Wartungsdienstleistungen zusätzlich stärken. Einerseits soll namentlich der Zugang zu erforderlichen Reparaturinformationen sowie der Zugang zu und die Verwendung von alternativen Ersatzteilen verbessert werden, andererseits soll es Kfz-Herstellern nicht mehr möglich sein, ihre Gewährleistungspflicht davon abhängig zu machen, dass Wartungsleistungen wie beispielsweise Ölwechsel nur in zugelassenen Werkstätten durchgeführt werden. Kfz-Hersteller können aber weiterhin verlangen, dass unter die Gewährleistung fallende Reparaturen, für die sie selbst aufkommen müssen, nur von Vertragswerkstätten vorgenommen werden müssen.
3. Wesentliche Neuerungen in der Schweiz bezüglich VertBM
3.1 Allgemeines
Die überarbeitete VertBM beachtet gemäss Pressemitteilung der Weko die jüngste Fallpraxis der Wettbewerbskommission sowie die vorgenannten Anpassungen im EU-Recht. Angesichts der geringen Zahl entschiedener Fälle bezüglich Vertikalabreden ist jedoch eher davon auszugehen, dass die Anpassungen an das EU-Recht im Vordergrund gestanden haben. Insbesondere sind zwei der drei dieser Vertikalabreden-Fälle noch nicht rechtskräftig.
Die Weko ist gemäss den Erwägungen zur VertBM denn auch bestrebt durchzusetzen, dass in der Schweiz im Bereich vertikaler Abreden möglichst die gleichen Regeln zur Anwendung kommen sollen wie in der EU. In diesem Sinne gelten gemäss den Erwägungen der VertBM die europäischen Regeln analog auch für die Schweiz. Die Angleichung bzw. analoge Anwendung der europäischen Regeln auch in der Schweiz ist dem Grundsatz nach zu begrüssen. Dadurch kann – nun explizit – auf die entsprechende Praxis in der EU zurückgegriffen werden, namentlich bezüglich Auslegung der VertBM sowie in Fällen, für welche es in der Schweiz an entsprechenden Entscheiden der Weko oder ihrer Rechtsmittelinstanzen mangelt. Unklar in diesem Zusammenhang bleibt jedoch, weshalb die Weko beim Erlass der VertBM dennoch – zum Teil auch nur geringfügig – andere Formulierungen verwendet als in der VertGVO. Damit hat die Weko möglicherweise unerwünschte Auslegungsprobleme geschaffen, ohne kenntlich zu machen, dass eine unterschiedliche Regelung im Sinne eines sog. «Swiss finish» eingeführt werden soll.
Die revidierte VertBM trat auf den 1. August 2010 in Kraft und sieht für Verträge, welche vor dem 1. August 2010 abgeschlossen wurden, eine Übergangs- bzw. Anpassungsfrist bis zum 31. Juli 2011 vor.
3.2 Widerlegung der Vermutung der Wettbewerbsbeseitigung bei vertikalen Abreden
Die revidierte VertBM soll neu Klarheit schaffen in der Frage, welche Nachweise zu erbringen sind, um die in Art. 5 Abs. 4 KG (Preisbindungen zweiter Hand und absoluter Gebietsschutz) enthaltene Vermutung der Beseitigung des wirksamen Wettbewerbs zu widerlegen. Gemäss VertBM ist neu eine Gesamtmarktbetrachtung massgebend. Hierbei soll ausschlaggebend sein, ob genügend Wettbewerb zwischen Anbietern verschiedener Marken (Interbrand-Wettbewerb) oder zwischen Anbietern der gleichen Marke (Intrabrand-Wettbewerb) besteht oder ob eine Kombination dieser Wettbewerbsformen zu genügend wirksamem Wettbewerb im relevanten Markt führt.
Selbst wenn die genannten Kriterien der Gesamtmarktbetrachtung für die Anwendung im Einzelfall wohl noch zu präzisieren sind, ist davon auszugehen, dass eine Widerlegung der genannten Vermutung wohl in den meisten Fällen gelingen wird. Die Weko hat in den Erwägungen zur VertBM und der bisherigen Praxis jedoch klargestellt, dass unzulässige Wettbewerbsabreden nach Art. 5 Abs. 4 KG ihrer Ansicht nach gleichwohl sanktionsbedroht sind, d.h. selbst wenn die Vermutung widerlegt werden kann.
3.3 Rechtfertigung erheblich wettbewerbsbeeinträchtigender Abreden und «qualitativ schwerwiegende Abreden»
Vertikale Abreden gelten grundsätzlich ohne Einzelfallprüfung als gerechtfertigt, wenn der Anteil am relevanten Markt eines jeden an der Abrede beteiligten Unternehmens die Schwelle von 30% nicht überschreitet und es sich nicht um eine in der VertBM definierte, «qualitativ schwerwiegende Abrede» handelt. Ferner geht die Weko unter gewissen Voraussetzungen bzw. bei gewissen vertikalen Abreden von deren Zulässigkeit aus, wenn sämtliche an der Abrede beteiligten Unternehmen einen Marktanteil von unter 15% aufweisen. Von dieser sog. de minimis Regel nicht erfasst sind aber wiederum insbesondere Preisbindungen zweiter Hand und Abreden über den sog. absoluter Gebietschutz.
3.4 Preisempfehlungen
Gemäss VertBM ist bei Preisempfehlungen im Einzelfall zu prüfen, ob eine unzulässige Abrede im Sinne einer Preisbindung zweiter Hand vorliegt, nämlich wenn sich diese infolge der Ausübung von Druck oder der Gewährung von Anreizen durch eines der beteiligten Unternehmen tatsächlich wie Fest- oder Mindestverkaufspreise auswirken. Die Weko legt in der VertBM ferner dar, welche Umstände sie dazu veranlassen, Preisempfehlungen näher zu untersuchen. Die Funktion dieser «Aufgreifkriterien» erscheint nicht vollständig klar. Aufgrund des erklärten Ziels, die Regeln bezüglich Vertikalabreden mit denjenigen der EU zu harmonisieren, ist jedoch davon auszugehen, dass Preisempfehlungen auch unter der VertBM nur dann als unzulässig qualifiziert werden, wenn diese mittels Druck oder Anreizsystemen tatsächlich zu einer Abrede über Fix- oder Mindestpreise geführt hat. Bei Marktanteilen von über 30% ist eine Einzelfallprüfung hinsichtlich der Auswirkungen der Preisempfehlung auf die Wettbewerbsverhältnisse im relevanten Markt vorzunehmen.
3.5 Änderung bezüglich nachvertraglicher Wettbewerbsverbote
Die Weko beurteilt neu nachvertragliche Wettbewerbsverbote generell als qualitativ schwerwiegende Wettbewerbsbeeinträchtigungen, und dies nicht erst, wenn das nachvertragliche Wettbewerbsverbot die Dauer von einem Jahr nach Vertragsende überschreitet, wie dies die Bekanntmachung aus dem Jahr 2007 noch vorsah. Demgemäss müssen nachvertragliche Wettbewerbsverbote stets einer Einfallbeurteilung unterzogen werden. Nicht der Fall wäre dies grundsätzlich nur, wenn sämtliche an der Abrede beteiligten Unternehmen einen Marktanteil von unter 15%, unter gewissen Voraussetzungen sogar von nur unter 5% aufweisen.
Diese Änderung, auch wenn die Regelung nun grundsätzlich derjenigen der EU entspricht, ist nicht zu begrüssen. In der Praxis wird man sich wohl damit zu trösten haben, dass bislang keine entsprechenden Fälle von der Weko aufgegriffen wurden und ein nachvertragliches Konkurrenzverbot nicht als bussgeldbedrohte Vertikalabrede zu gelten hat. Ist jedoch unwahrscheinlich oder ist eine Behörde gar nicht gewillt, entsprechende Fälle aufzugreifen und mittels anfechtbarer Verfügung zu entscheiden, ist unseres Erachtens von einer entsprechenden Regulierung gänzlich abzusehen und der Entscheid über die Zulässigkeit solcher Abreden den Zivilgerichten zu überlassen.
3.5.1 Internetverkäufe
Die VertBM erwähnt den Online-Vertrieb nur am Rande. Internetverkäufe gelten als passiver Verkauf, es sei denn, die entsprechenden Verkaufsbemühungen würden sich gezielt an Kunden ausserhalb des zugewiesenen Vertragsgebietes richten. Da die Weko die Wettbewerbsregeln für vertikale Abreden grundsätzlich mit denjenigen der EU harmonisieren will, sind bezüglich des Online-Handels die Ausführungen in den Leitlinien analog heranzuziehen (vgl. hierzu die Ausführungen zum Online-Handel oben).
Am 15. September 2010 hat die Weko denn auch eine Untersuchung wegen Behinderungen bzw. des gänzlichen Verbotes von Verkäufen über Online-Shops im Bereich von Waschmaschinen (der sog. Weisswarenbranche) eröffnet. Gemäss Pressemitteilung sollen im Rahmen dieser Untersuchung die grundsätzlichen Kriterien für die Beurteilung vertraglicher Restriktionen im Bereich des Online-Handels erarbeitet werden.
4. Überprüfungs- und Handlungsbedarf
Innerhalb der festgesetzten Übergangsfristen bis Ende Mai 2011 bzw. Juli 2011 sowie 2013 ist vorab zu prüfen, ob die in Kraft stehenden Verträge aufgrund der eingeführten zweiten Marktanteilsschwelle noch von der Freistellung der VertGVO bzw. VertBM erfasst werden. Ist dies der Fall, ist sodann zu prüfen, ob die Verträge bzw. die diesbezüglich gelebte Vertragspraxis noch immer mit den überarbeiteten bzw. verdeutlichten Regeln der VertGVO und der Kfz-GVO bzw. der VertBM im Einklang stehen.
So ist namentlich sicherzustellen, dass Preisempfehlungen, werden solche ausgesprochen, nicht mittels Druck oder geschaffenen Anreizen wie Mindest- oder Fixpreisen durchgesetzt werden. Ferner ist zu prüfen, ob allfällige den Vertriebsnehmern auferlegte Restriktionen bezüglich Online-Vertrieb gelockert bzw. angepasst werden müssen. Bezüglich Qualitätsanforderungen an den Online-Vertrieb ist insbesondere zu untersuchen, ob diese mit den Offline-Vertriebserfordernissen kohärent sind und in den Vertriebsverträgen namentlich klar und überprüfbar implementiert sind.