Produktsicherheit

Produktsicherheit: Verkaufsverbote sind auch bei Einhaltung der relevanten technischen Normen zulässig


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In einem aktuellen Grundsatzurteil zur Produktsicherheit entschied das Bundesgericht, dass das Inverkehrbringen von Produkten selbst dann unzulässig sein kann, wenn diese den massgeblichen technischen Normen entsprechen. Im konkreten Fall bestätigte das Bundesgericht Verfügungen der SUVA, worin das Inverkehrbringen von sog. Schnellwechseleinrichtungen zur Befestigung von Anbaugeräten an Baumaschinen verboten wird, sofern diese den grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen nicht entsprechen. Dass die Produkte der relevanten technischen Norm entsprachen und somit eine Konformitätsvermutung bestand, steht dem Verbot nicht entgegen. Vielmehr kann die zuständige Behörde diese Vermutung wiederlegen, was der SUVA im vorliegenden Fall denn auch gelang, weil die Norm grundlegende Sicherheitsrisiken bei Fehlanwendungen nicht abdecke.

Verkaufsverbot der SUVA

Nachdem sich mehrere tragische Unfälle im Zusammenhang mit Schnellwechseleinrichtungen für Bagger ereignet hatten, verbot die SUVA mehreren Schweizer Unternehmen das Inverkehrbringen von Schnellwechseleinrichtungen. Die SUVA begründete dies damit, dass von den Schnellwechseleinrichtungen, obschon sie den in Europa harmonisierten technischen Normen entsprächen, Gefährdungen durch die fehlerhafte oder unvollständige Verriegelung in Kombination mit einem Fehlverhalten des Maschinenführers ausgingen, die durch technische Lösungen zu beheben seien.

Die gegen die Verfügungen erhobenen Beschwerden wurden vom Bundesverwaltungsgericht jedoch gutgeheissen und die Verbote aufgehoben. Die SUVA und das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) legten wiederum gegen diesen Entscheid Beschwerde beim Bundesgericht ein. In dem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 10. April 2017 (2C_75/2016, 2C_76/2016) bestätigte das Bundesgericht sodann die Rechtmässigkeit der Verfügungen der SUVA.

Klarstellung des Verhältnisses zwischen PrSG und THG

Zunächst stellte das Bundesgericht fest, dass das Bundesgesetz über die technischen Handelshemmnisse (THG) entgegen der Ansicht der Vorinstanz in vorliegendem Fall nicht anwendbar sei.

Das Bundesgesetz über die Produktesicherheit (PrSG) sowie das THG regeln die Voraussetzungen für das Inverkehrbringen von Produkten und müssen komplementär angewandt werden. Im Rahmen der THG-Revision wurde 2010 das „Cassis-de-Dijon-Prinzip“ eingeführt (Art. 16a ff. THG). Damit wurde der schweizerische Markt insoweit geöffnet, als Produkte, die im EU- bzw. EWR-Raum rechtmässig im Verkehr sind, grundsätzlich auch in der Schweiz ohne zusätzliche Kontrollen vertrieben werden können, auch wenn sie den schweizerischen Vorschriften nicht oder nicht vollständig entsprechen (vgl. dazu allgemein MLL-News vom 10. Mai 2010).

Damit sollte allerdings gemäss Bundesgericht bloss ein zusätzliches Instrument zur Beseitigung technischer Handelshemmnisse geschaffen werden. Dieses sollte indes keinen Ersatz für die bestehenden Regelungen, sondern lediglich eine Ergänzung darstellen. In erster Linie muss das Inverkehrbringen von Produkten deshalb noch immer den schweizerischen Produktevorschriften und in zweiter Linie staatsvertraglichen Reglungen entsprechen. Die Regelung des Cassis-de-dijon-Prinzips kommt somit nur dann zur Anwendung, wenn die Schweiz die Produktestandards der EU nicht übernommen hat und keine Ausnahmen i.S. von Art. 16a Abs. 2 THG vorliegen. Mit anderen Worten ist Art. 16a THG nur in den zwischen der Schweiz und dem EU/EWR-Binnenmarkt nicht harmonisierten Bereichen anwendbar. Im vorliegenden Fall hat die Schweiz jedoch die Produktestandards der EU-Maschinenrichtlinie (2006/42/EG) in der Maschinenverordnung (MaschV) übernommen, weshalb die Regelung des Cassis-de-Dijon-Prinzips nicht zur Anwendung gelangt.

Der New Approach im Produktsicherheitsrecht

In der Folge wies das Bundesgericht auf die Geltung des sogenannten New-Approachs im Produktsicherheitsrecht hin. Nach diesem Ansatz werden Produkte nicht mehr vor dem Inverkehrbringen durch eine staatliche Stelle auf ihre Sicherheit geprüft. Stattdessen werden lediglich die grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen festgelegt (vgl. Art. 4 PrSG). Deren Einhaltung liegt in der Eigenverantwortung der Hersteller. Sie müssen grundsätzlich bei einer Kontrolle nachweisen können, dass das Produkt diesen Anforderungen entspricht.

Wird ein Produkt jedoch nach harmonisierten technischen Normen hergestellt, welche vom zuständigen Bundesamt bezeichnet werden (vgl. Art. 6 PrSG und Art. 3 MaschV), so gilt grundsätzlich die Konformitätsvermutung (Art. 5 Abs. 2 PrSG). Es wird demnach vermutet, dass das Produkt den von dieser harmonisierten technischen Norm erfassten grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen entspricht (vgl. dazu allgemein MLL-News vom 29. September 2010). Dadurch wird für den Hersteller eine gewisse Rechtssicherheit geschaffen und es erfolgt eine Umkehr der Beweislast. Die Marktaufsichtsbehörden müssen in diesem Fall nachweisen, dass das Produkt trotz Einhaltung der Normen nicht den Anforderungen entspricht.

Konkretes Vorgehen für die Prüfung der Konformität

Ausgehend davon definierte das Bundesgericht das für den vorliegenden Fall relevante Prüfprogramm:

  • Im ersten Schritt ist zu prüfen, ob das Produkt die in einer bezeichneten Norm enthaltenen Anforderungen einhält (I).
  • Im zweiten Schritt ist zu prüfen, ob die Risiken, welche die SUVA anvisiert, von dieser Norm erfasst sind (II).
  • Ist dies zu verneinen, muss der Hersteller die Einhaltung der Sicherheitsanforderungen nachweisen. Ist dies zu bejahen, gilt die Konformitätsvermutung nach 5 Abs. 2 PrSG und es muss in einem dritten Schritt geprüft werden, ob diese Vermutung widerlegt ist (III).
  • Kann die Vermutung widerlegt werden, muss in einem vierten Schritt geprüft werden, welchen Einfluss das „Konformitätsabkommen“ (MRA) der Schweiz mit der EU auf den Entscheid hat (IV).
  • Im fünften Schritt muss schliesslich geprüft werden, „welcher Grad von Konkretheit positiver behördlicher Anordnungen zulässig ist“ (V).

Ergebnis im vorliegenden Fall: Konformitätsvermutung ist widerlegt

Das Bundesgericht entschied, dass die streitbetroffene Maschine die europäisch harmonisierte technische Norm EN-474-1 einhält (I). Die Norm enthält bezüglich der von der SUVA geltend gemachten Gefährdung durch die fehlerhafte oder unvollständige Verriegelung in Kombination mit einem Fehlverhalten des Maschinenführers keine Schutzlücke (II). Es greift folglich die Konformitätsvermutung nach Art. 5 Abs. 2 PrSG, und es wird angenommen, dass die strittigen Schnellwechseleinrichtungen den grundlegenden Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen entsprechen. Diese Vermutung ist aber in diesem Fall widerlegt, da die Norm EN 474-1 für vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendungen entgegen den grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen keine baulichen Massnahmen für die Beseitigung oder Minimierung dieser Risiken vorsieht (III). Die Frage, ob die Konformitätsvermutung widerlegt werden kann, ist nicht Gegenstand des Konformitätsabkommens. Das Abkommen hat daher auf vorliegenden Entscheid keinen Einfluss (IV). Nach dem New-Approach ist es sodann nicht Aufgabe des Staates bzw. der SUVA, Lösungen für die Beseitigung des Mangels vorzuschlagen. Es liegt in der Kompetenz des Herstellers zu entscheiden, wie und mit welchen baulichen Massnahmen er die Risiken minimiert oder beseitigt (V). Nach Beseitigung des Mangels kann der Hersteller das Produkt in Eigenverantwortung wieder in Verkehr bringen.

Fazit

Das Bundesgericht hob den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts auf und bestätigt die Verbote der SUVA. Das Urteil macht deutlich, dass die durch die technischen Normen geschaffene Rechtssicherheit trügerisch ist. Das Bundesgericht bestätigt zwar, dass die Hersteller grundsätzlich für die von einer Norm erfassten Risiken keine eigene Risikobeurteilung mehr vornehmen müssten. Dies gilt jedoch nur unter dem Vorbehalt der Widerlegung der Konformitätsvermutung. Neben dem Umstand, dass eine Norm womöglich von Vornherein nicht sämtliche Risiken abdeckt, hat der Hersteller, wenn er auf der sicheren Seite sein will, somit auch mögliche Unzulänglichkeiten der Norm zu berücksichtigen. Er muss sich demnach fragen, ob die Norm beispielsweise wie im vorliegenden Fall auch ausreichende Massnahmen zur Beseitigung oder Minimierung von Risiken vorsieht, die von vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendungen ausgehen.

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