Schneeballsystem

EuGH: Schneeballsysteme müssen hauptsächlich durch die Beiträge von Neuzugängern finanziert werden – die Höhe der Beiträge ist grundsätzlich unerheblich


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Ein Schneeballsystem stellt nach Anhang 1 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (2005/29/EG) eine unter allen Umständen unlautere Geschäftspraxis dar. Die Liste in Anhang 1 der EU-Richtlinie zielt unmittelbar auf die Schaffung grösserer Rechtssicherheit im europäischen Binnenmarkt ab. Hierzu werden Geschäftspraktiken identifiziert, die von vornherein und daher ohne Einzelfallprüfung als unlauter gelten können. Schneeballsysteme sind solche absolut verbotene Geschäftspraktiken. Aufgrund von unterschiedlichen Umsetzungen der Richtlinie in den Mitgliedstaaten ist nicht klar, ob die Entrichtung eines Beitrags durch den neu ins System hinzutretenden Verbraucher ein konstitutives Kriterium darstellt und ob die Höhe des zu entrichtenden Betrags eine Rolle spielt. Diese zwei Fragen beantwortet der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens des Obersten Verwaltungsgerichtshofs Litauen, nachdem dieser festgestellt hat, dass die Umsetzung der Richtlinie im litauischen und deutschen Recht ihrem Wortlaut nach auf das Kriterium der Beitragsentrichtung verzichtet, während ein solches z. B. in Spanien, Frankreich und Polen explizit gefordert wird.

Ausgangslage: Schneeballsystem trotz minimalen, wenn nicht symbolischen Beiträgen?

Ausschlaggebend für das eingereichte Vorabentscheidungsersuchen ist der folgende Sachverhalt aus Litauen. Die Gesellschaft 4finance führte eine Werbekampagne durch, in der jedem Kunden eine Prämie von 20 LTL für das Einbringen eines Neukunden in Aussicht gestellt wurde. Meldete sich ein neuer Kunde über die Internetseite der Gesellschaft an, hatte dieser Anmeldekosten in der Höhe von 0.01 LTL zu entrichten. In der Folge wurde gegen die Gesellschaft eine Busse verhängt, weil sie angeblich gegen das Gesetzt über unlautere Geschäftspraktiken verstossen hat. Konkret wurde das in der Werbekampagne betriebene Absatzförderungssystem als Schneeballsystem eingestuft.

4finance legte gegen diesen Entscheid beim Obersten Verwaltungsgerichtshof Litauens ein Rechtsmittel ein. Dort wiederum sah man sich mit einem komplexen Problem konfrontiert, denn der von der 4finance geforderte finanzielle Betrag war zwar grundsätzlich ein Beitrag im wie er in einem Schneeballsystem verlangt wird, der Betrag belief sich aber nur auf ein Minimum von 0.01 LTL. Dies ist der technisch kleinstmögliche überweisbare Betrag. Ihm kommt höchstens symbolische Bedeutung zu und er dient lediglich der genauen Identifizierung des Kunden zur Ermöglichung des Vertragsabschlusses. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof von Litauen konnte also nicht mit Sicherheit sagen, ob ein Schneeballsystem vorliegt, weil die Bedeutung des Beitrages unklar ist. Darum will man vom EuGH wissen:

  • ob der neue Verbraucher zwingend einen finanziellen Beitrag entrichten muss, damit ein Schneeballsystem vorliegt,
  • ob die Höhe des Beitrags einen Einfluss auf die Einstufung des Schneeballsystems als zur Verkaufsförderung irreführende und somit absolut verbotene Geschäftspraxis hat
  • und ob es von Bedeutung ist, in welchem Umfang die neu einbezahlten Beträge die Vergütungen der bereits eingetragenen Verbraucher finanzieren, bzw. diese Vergütungen ganz oder grösstenteils durch die neu eingezahlten Beiträge finanziert sein müssen.

Schneeballsysteme sind ohne finanzielle Beiträge nicht möglich

Um auf diese Fragen eine Antwort zu finden, muss der wirkliche Wille des Gesetzgebers und der Zweck der Norm unter Berücksichtigung aller Sprachfassungen ergründet werden. Das Verbot von Schneeballsysteme gemäss der EU-Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (Anhang I Nr. 14 Verordnung 2005/29) beruht auf drei gemeinsamen Voraussetzungen:

  • der Verbraucher muss eine Möglichkeit haben, einen wirtschaftlichen Vorteil zu erlangen,
  • was wiederum nur möglich ist, indem neue Verbraucher dem System zugeführt werden
  • und die finanziellen Mittel des Systems, welche die Vergütungen finanzieren, grösstenteils einer tatsächlich nicht wirtschaftlichen Tätigkeit entstammen.

Hieraus schliesst der EuGH im Urteil vom 23. April 2014 (Rechtssache C‑515/12), dass, mangels einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit, ein solches Absatzsystem zwangsläufig von den Beiträgen seiner Teilnehmer genährt werden muss und für sein Fortbestehen eine immer grössere Anzahl von neuen Teilnehmern erforderlich ist. Der finanzielle Beitrag der Teilnehmer muss sodann als unverzichtbare Grundvoraussetzung (konstitutives Element) eines Schneeballsystems betrachtet werden.

Die Höhe der finanziellen Beiträge

Jene Staaten die bei der Umsetzung der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken den finanziellen Beitrag des Verbrauchers integrierten, haben keinen Mindestbetrag festgesetzt. Dies würde nämlich dem in der Richtlinie erklärten Ziel, grössere Rechtssicherheit bei der Identifizierung von unlauteren Geschäftspraktiken zu erreichen, entgegenstehen, da jeder Mitgliedstaat die relevanten Beiträge beliebig festsetzten würde, was zu einer unübersichtlichen Menge an verschiedenen Minimalbeiträgen führte. Aus diesem Umstand wird ersichtlich, dass es keine Mindestsummen geben darf. Jeder finanzielle Beitrag, unabhängig seiner Höhe, den ein Verbraucher beim Eintritt in ein auf Absatzförderung ausgelegtes System zu zahlen hat, muss somit als Indiz für das Vorliegen eines Schneeballsystems gewertet werden.

Beiträge als Haupteinnahmequelle für Vergütungszahlungen

Damit ein Schneeballsystem im Sinne der EU- Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (Richtlinie 2005/29/EG) vorliegt und es unter allen Umständen und ohne Einzelfallbeurteilung verboten werden kann (Anhang 1), muss der Verbraucher die Möglichkeit vor Augen haben, eine Vergütung zu erzielen, die hauptsächlich durch die Einführung neuer Verbraucher in ein solches System und weniger durch den Verkauf und Verbrauch von Produkten zu erzielen ist. Es liegt in der Natur eines Schneeballsystems, dass die Beiträge von neuen Teilnehmern gerade die entscheidende Quelle für die Finanzierung der Vergütungen schon bestehender Mitglieder ist. Die Beiträge und Vergütungen müssen zwingend zusammenhängen. Umgekehrt könnte man sagen, dass kein Schneeballsystem vorliegt, wenn die Vergütungen aus Mitteln bezahlt werden, die aus einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit stammen. Der EuGH hält zum Schluss seiner Beurteilung fest, dass im vorliegenden Fall die 4finance ein Absatzförderungssystem geschaffen hat, in dem die neuen Teilnehmern beim Eintritt ins System zwar einen finanziellen Beitrag entrichten müssen, dieser aber, aufgrund seiner geringen Höhe, nur in einem äusserst geringen Umfang (wenn überhaupt?!) an die Finanzierung der ausbezahlten Vergütungen beitragen kann. Die Voraussetzungen eines Schneeballsystems dürften daher eher nicht erfüllt sein. Mit dieser Erkenntnis wird der Fall zur finalen Beurteilung an den Obersten Verwaltungsgerichtshof Litauen zurückgegeben.

Fazit mit Blick auf die Schweiz

Auch der schweizerische Gesetzgeber äussert sich zum Schneeballsystem. Das Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb erwähnt in der relevanten Bestimmung (Art. 3 Abs. 1 lit. r UWG) die Entrichtung einen Beitrages nicht wortwörtlich, ist also vergleichbar mit der litauischen oder deutschen Umsetzung der EU-Richtlinie. Entscheidend ist aber auch nach Schweizer Recht, dass eine Prämie in Aussicht gestellt wird, deren Auszahlung hauptsächlich durch das Einbringen neuer Mitglieder ins System und weniger durch den Verkauf oder Verbrauch von Waren oder Leistungen, ausgelöst wird. So wird wohl auch darauf abgestellt, dass in einem Schneeballsystem gerade keine tatsächliche wirtschaftliche Leistung erbracht wird, sondern einzig die Beiträge der neu eingebrachten Teilnehmer, dem System neue finanzielle Mittel zuführen. Damit dürfte in der Schweiz gelten was auch in Europa gilt, – nämlich, dass weniger die Höhe der Beiträge, als viel mehr deren Zusammenhang mit den ausbezahlten Prämien ausschlaggebend für den Bestand eines Schneeballsystems ist.

Weitere Informationen:

Ansprechpartner: Lukas Bühlmann


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